Konzerte Saison 2015-2016

  • 1.12.2015
  • 19:30
  • 90.Saison
  • Zyklus A
Stadtcasino Basel, Hans Huber-Saal

Arditti Quartet (London)

Seit seiner Gründung im Jahre 1974 durch den damals 21-jährigen Irvine Arditti gilt das Arditti Quartet als das Ensemble für moderne Streichquartettliteratur. Werke vor 1900 spielt es nur wenige wie Beethovens Grosse Fuge, dafür umso lieber neue und neuste Stücke. Mehrere hundert Quartette und dazu Werke in anderer Besetzung hat es zur Uraufführung gebracht, bisher drei auch in unseren Konzertreihen (Ferneyhough Nr. 4 1990, Wohlhauser 2001, Winkelman 2011). Die Reihe der Komponisten, die Werke explizit für die Ardittis geschrieben haben, ist lang. Kein Wunder, dass das Ensemble auch eine enge Zusammenarbeit mit diesen Kom¬ponisten pflegt. Nicht nur «Weltmeister im Uraufführen» (wie die Basler Zeitung einst titelte) sind die Arditti-Musiker, sondern unbestritten auch Garanten für die höchst kompetente Interpretation Neuer Musik. Dies haben sie in über 200 CD-Einspielungen solcher Werke bewiesen. Für die beste Aufnahme zeitgenössischer Musik errang das Arditti Quartet 1999 mit Quartetten von Elliott Carter und 2002 mit Harrison Birtwistle den Gramophone award. Der enorme Einsatz für die moderne Musik wurde zudem 1999 mit dem Ernst von Siemens Musik-Preis und 2004 mit dem «Coup de Coeur» der Académie Charles Cros für den Beitrag zur Verbreitung der Musik unserer Zeit gewürdigt. Erstaunlich ist nicht nur die Breite dieses höchst schwierigen Repertoires, sondern auch, dass das Quartett diese Werke jederzeit präsent hat und aufführen kann. Das Archiv des Arditti Quartet befindet sich in der Paul Sacher Stiftung in Basel. Seit 2008 spielt das Quartett in der heutigen Besetzung. Auch das Arditti Quartet feiert heute mit seinem 10. Auftritt in unseren Konzertreihen ein kleines Jubiläum.
Klangspiele

Emmanuel Nunes studierte in Lissabon an der Musikakademie und an der Universität deutsche und griechische Philologie sowie Philosophie. Seit 1964 lebte er vor allem in Paris. Er besuchte Kompositionskurse bei Henri Pousseur und Pierre Boulez in Darmstadt und bei Karlheinz Stockhausen. Als Dozent wirkte er an der Harvard University, in Lissabon, Freiburg i. Br. und Paris. Ab 1989 arbeitete er regelmässig am IRCAM in Paris. Chessed III wurde am 8. Juni 1992 vom Arditti Quartet in Lissabon uraufgeführt. «Chessed» ist eine Untergruppe des Zyklus «Die Schöpfung», dessen Komposition Nunes 1979 begann. Der Titel verweist auf die Ähnlichkeit zwischen der Kompositionstechnik und der Lektüre eines Kapitels des Zohar, der wichtigsten Schrift der Kabbala. Dieser Text schildert den Tod eines Rabbiners und beschwört ein so starkes Licht, dass einzig «nicht sehen» möglich ist. Gemäss der kabbalistischen Symbolik ist Chessed mit der Zahl vier verbunden. In Chessed I und II für Solovioline handelte es sich um dichtes Gewebe, das sich allmählich auflöst und klarere Strukturen sichtbar werden lässt. In «Chessed III» fasert dieses Gewebe ebenfalls aus, ohne dass dies zunächst spürbar wird, betrifft doch die Entwicklung die verschiedenen Lagen des Gewebes.

Alfred Zimmerlin schreibt zu seiner Fatrasie und zum 4. Streichquartett:

Ein Riesenvergnügen dürfte der Komponist Jürg Wyttenbach – dieser Meister des Absurden im Konkreten und Liebhaber des Deftigen – bei der Lektüre der «Fatrasien» empfinden, welche im 13. Jahrhundert im nordfranzösischen Arras gedichtet wurden: absurde mittelalterliche Poesie zur Fastnachtszeit, pure, strenge, mitunter zotige Wort-Klang-Spiele. Ralph Dutli hat die Texte meisterhaft ediert und übersetzt. Ein solcher Text wird in der «Fatrasie – Hommage à Jürg Wyttenbach» von den Mitgliedern des Streichquartetts auf bizarre Weise gesprochen, altfranzösisch, aber mit der Färbung der Muttersprache des jeweiligen Spielers. Dazu werden auf den Instrumenten Rhythmen gespielt, welche aus der systematischen Sammlung von Marschtrommel-Rhythmen stammen, die sich in Thoinot Arbeaus «Orchésographie» (Langres 1589) findet. Anstelle eines Bogens verwenden die Spieler jeweils ein chinesisches Essstäbchen zur Klanganregung der Saiten ihrer Instrumente. Eine kurze, absurde musikalische Situation für Jürg Wyttenbach zum 80. Geburtstag!

Die «Fatrasie» kann als Interpolation an einer bestimmten Stelle im 4. Streichquartett gespielt werden, ist aber genauso auch eine Art «Encore».

Das persönliche Ausdrucksbedürfnis eines Komponisten ist viel weniger wichtig, als es die Klänge sind. Sobald ein Ego dezidiert mitzuspielen beginnt, sind die Klänge dazu gezwungen, mehr zu sein als einfache Tatsachen. Die Klänge im 4. Streichquartett haben nicht – wie sonst oft – die zusätzliche Aufgabe, auch aussermusikalische Sinneseindrücke zu transportieren. Sie sind nichts anderes als Klänge. Alle Emotion, die wir beim Hören empfinden können, kommt aus ihnen, denn die Klänge selber laden uns zu einem Hör-Erlebnis ein. Die Phase in der Musikgeschichte, in welcher die Klänge mehr als sich selber zu sein hatten, war verhältnismässig kurz, wirkt aber bis heute nach; sie prägte vor allem das 19. Jahrhundert.

Dennoch mag es im 4. Streichquartett immer wieder musikalische Momente oder Gesten geben, die uns beim Hören an in anderer Musik Erlebtes erinnern. Und doch sind sie eigentümlich verschieden. Im neuen Kontext lassen sie sich neu aus sich selber heraus erleben. Selbst die Qualitäten einer vorgefundenen Melodie aus dem europäischen Mittelalter, wie sie am Ende des Satzes «14 Variationen» aus einem Metamorphose-Prozess entsteht, mögen neu-anders erfasst werden.

Im 4. Streichquartett setzte ich mich mit Fragen des rein musikalischen Denkens auseinander. Wie kann Form aus kleingliedrigen Episoden entstehen? Wie kann eine Folge von musikalischen Momenten eine Narration ergeben? Wie wirkt Voraushörbares auf Unmittelbares, Überraschendes ein? Gibt es Brücken zwischen Widersprüchen? Wie kann aus einem Plural innermusikalische Logik entstehen?

Das 4. Streichquartett hat vier unterschiedliche Sätze, die in Kreisform angeordnet sind: Eine Aufführung kann mit jedem Satz beginnen ¬– ein Zyklus also wie die vielen Zyklen im Leben. Mit einem Augenzwinkern habe ich mich nach Fertigstellung entschlossen, folgenden Hinweis in der Partitur zu vermerken: «Es empfiehlt sich, an winterlichen Tagen mit ‹11 Episoden›, an frühlingshaften Tagen mit ‹14 Momente...›, an sommerlichen Tagen mit ‹23 Episoden› und an herbstlichen Tagen mit ‹14 Variationen› zu beginnen.» Also doch noch ein winziger Rest aussermusikalischer Poesie...

Das 4. Streichquartett entstand im Auftrag der Gesellschaft für Kammermusik Basel und ist ihr gewidmet. (A. Z.)

Auch Morton Feldman war vom Phänomen Klang besessen; es durchzieht sein ganzes Schaffen. Musik sollte vor allem ein abstraktes Klangereignis sein. Darum stand für ihn auch die Frage im Zentrum, wie man Klang bzw. klangliche Situationen notieren kann. Ermutigt von John Cage und den Erfahrungen in der New Yorker Kunstszene fand er dafür um 1950 graphische Notationsformen, welche zwar gewisse Bereiche umschreiben (Dynamik, Klangfarben), aber etwa die genaue Tonhöhe offenlassen. Aus der gleichen Zeit stammt aber auch die Ausnahme: Das kurze Quartettstück Structures ist geradezu klassisch notiert, dazu extrem detailliert und lässt der Improvisation keinen Raum. Gleichwohl geht es bei den verschiedenen Strukturen vor allem um Klang bzw. um spezielle, strukturierte Klänge. Alle vier Instrumente spielen con sordino möglichst leise. Das versetzt den Zuhörer in eine sanft-meditative Stimmung. Das Stück zeigt ein fragiles, zartes Gewebe mit gering variierten Wiederholungen, wie Wellenbewegungen. Sie beginnen mit einer Reihe vereinzelter, zögerlicher Noten. Dann erscheinen kräftigere längere Töne, die sich zu einem Rhythmus entwickeln. Dieser wiederholt sich einige Takte lang, bevor er einem neuen, ebenfalls sich wiederholenden Platz macht. Das Spiel setzt sich fort, bevor es zu den Einzelklängen des Beginns zurückfindet.

Das heutige Konzert kann auch als Hommage für Helmut Lachenmann gelten, der seinen 80. Geburtstag vor vier Tagen gefeiert hat. Geboren wurde er in Stuttgart, wo er 1955-58 auch studiert hat. 1958-1960 folgten Studien bei Luigi Nono in Venedig, der ihm den Auftrag mitgab, «dort weiterzusuchen, wo er selbst aufhörte – im Inneren des Klanges». Nach diversen Lehraufträgen, u. a. Meisterklassen in Basel 1972/73, wurde er 1981 Professor für Komposition in Stuttgart. 1997 erhielt er den renommierten Ernst von Siemens Musikpreis. Am 21. Januar 2010 hat das Arditti Quartet seine drei Streichquartette (Gran Torso, Reigen seliger Geister, Grido) in einem Konzert der IGNM und der Hochschule für Musik anlässlich einer Gastprofessur Lachenmanns in Basel gespielt. Lachenmann sind Klangfarben und das Instrument als Klangerzeuger wichtig. Dies war 2010 eindrücklich am 1. Quartett von 1971/72 (rev. 1978 und 1988) zu erfahren, das stark von der Geräuschhaftigkeit seiner «Musique concrète instrumentale» bestimmt ist. Lachenmann macht alle Materialien der Instrumente zu Klangproduzenten, traktiert sie mit ungewöhnlichen Geräten (Bleistifte etc.) und ruft damit überraschende Klänge hervor. Das 3. Quartett findet eher zu «normalen» Klängen zurück. Es ist den Ardittis gewidmet (UA 2.11.2002 in Melbourne) und spielt in seinem Beinamen, der einen zunächst auf das italienische Wort für «Schrei» verweist, mit den Anfangsbuchstaben der Vornamen der damaligen Arditti-Mitglieder: Graeme Jennings, Rohan de Saram, Irvine Arditti und Dov Scheindlin. Es ist gemäss Frank Hilberg «geprägt von tonlich-klanglichem Volumen, ist runder, klassischer, orchestraler. Die klaren Tonhöhen dominieren, rasende Skalen und Arpeggien bestimmen das Spiel.» Und laut Martin Kaltenecker hat «Grido eine neue Expressivität dazugewonnen – das Land Musik wird frei besungen und gefeiert, wenn auch nie ohne reflexive Brechung oder aufweckende Störung – noch in den Choral am Ende kommt ein scharfer Riss hinein, ein Bellen, bevor die Musik zusammensackt.»

Lachenmann selber sagt: «Komponieren bedeutet für mich jedes Mal, wenn schon nicht ‹ein Problem lösen›, so doch mich mit einem Trauma, angstvoll/lustvoll, auseinandersetzen und anhand solcher empfundener und angenommener kompositionstechnischer Herausforderungen eine klingende Situation verursachen, die mir selbst wenn nicht neu, so doch fremd ist, und in der ich mich verliere und so erst recht mich wiederfinde.»

* * *

Hommage à Jürg Wyttenbach zum 80. Geburtstag am 2. Dezember

Am 27. November 1994 spielte das Arditti Quartet beim Festival d’Automne à Paris zusammen mit dem Südwestfunkorchester Baden-Baden unter der Leitung von Jürg Wyttenbach Werke von Emmanuel Nunes, Morton Feldman und Helmut Lachenmann für Streichquartett und Orchester. Jenes Konzert war massgebend für die Werkauswahl des Quartetts zum heutigen Abend: Es kommen die gleichen drei Komponisten wie damals als «Hommage à Jürg Wyttenbach» zum Zuge. Natürlich wäre auch ein Quartett von Wyttenbach angemessen gewesen. Unserer Bitte um ein neues konnte er leider nicht nachkommen. Und eine Aufführung des szenischen Quartetts «Exécution ajournée» (1970/71) liess sich aus Termingründen nicht realisieren. Alfred Zimmerlin hat unseren Auftrag, der ursprünglich für 2016 vorgesehen war, als Uraufführungskomponist übernommen und seinem neuen 4. Quartett zudem eine auf Wyttenbach zugeschnittene Fatrasie beigefügt.