In letzter Zeit ist es beliebt geworden, Vokalwerke grosser spätmittelalterlicher und Renaissance-Komponisten auf das Streichquartett zu übertragen. Man kann davon halten, was man will, und dem Original den Vorzug geben. Schön ist, dass diese Werke aus der Blütezeit der polyphonen Chormusik einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Der im wallonischen Hennegau (Mons) geborene Orlando di Lasso, der zu seiner Zeit wohl berühmteste Komponist, erhielt seine musikalische Ausbildung in Italien (darum der bei uns gängige italianisierte Vorname). Nach längerer Reisezeit wurde er 1552/3 Kapellmeister von S. Giovanni in Laterano, der Bischofskirche Roms, und war dort direkter Vorgänger Palestrinas. Über Antwerpen, wo er seine ersten Werke veröffentlichte, gelangte er 1557 als Tenorist an den Hof nach München. Dort übernahm er 1563 die Leitung der herzoglichen Hofkapelle, ohne dass dadurch seine Reisen aufhörten. 1571–74 war er häufig in Paris, wo die Prophetiae Sibyllarum Eindruck machten. Schon seine Chansons hatten ihm den Ehrentitel „Le divin Orlande“ eingetragen. Die 12 vierstimmigen Motetten über die sibyllinischen Prophezeiungen in lateinischen Hexametern erschienen erst nach Lassos Tod 1600, weil Herzog Albrecht V. Lassos Werke als Eigentum des Hofes betrachtete und ein Druckverbot erlassen hatte. Sie überraschen mit kühnen Intervallen und chromatischen Tonfolgen. In Lassos Motetten bewunderte man schon immer den auffallenden Kontraststil und sein enges Wort-Tonverhältnis.