Michel Roth wurde in Altdorf geboren. Er studierte Komposition und Musiktheorie bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens. 2001–2011 wirkte er als Dozent an der Luzerner Musikhochschule. 2011 folgte er einer Berufung zum Professor für Komposition und Musiktheorie der Hochschule für Musik Basel; er ist auch Mitglied der Forschungsabteilung. Zum Quartett «(w)hole» schreibt Roth:
Faltet man eine A4-Seite in immer kleinere Hälften, so entsteht auf dem wieder geöffneten Papier ein Raster von gleichen Rechtecken bzw. Punkten mit identischem Abstand. Dreht man dieses nun mit der Blattmitte als Achse um einen beliebigen Winkel kleiner als 180°, entsteht ein neues Punktraster, das mit dem ersten jedoch nur an genau einem Punkt, nämlich dem Mittelpunkt exakt zusammenfällt. Unter Verwendung verschiedener Winkel und jeweils projiziert auf eine Linie lassen sich so Ketten von Ereignissen generieren, die zwar der selben Schablone entspringen, jedoch nun scheinbar unabhängig voneinander einen einzigen gemeinsamen Punkt ansteuern und wieder unabhängig verlassen. Lässt man diesen Achsenpunkt weg und überlagert mehrere solche Raster, entsteht schnell der Eindruck einer chaotischen Folge, die aber irgendwo festgemacht scheint und zudem im Einzelnen nach wie vor aus in sich regelmässigen Impulsen besteht.
Dieses einfache, im Metier der Grafik und Gestaltung altbekannte Prinzip, liegt – musikalisch übertragen – meinem Streichquartett «(w)hole» zu Grunde. Die vier Stimmen folgen auf globaler bis ganz lokaler Ebene in sich regelmässigen Impulsketten, deren vierfache Überlagerung und verschiedene Projizierung über die ganze Dauer des Stücks jedoch eine sehr lebhafte Folge von Verdichtung und Ausdünnung ergibt. Obschon – verfolgte man ein Instrument isoliert – das Grundraster stellenweise erkennbar wäre, ist die musikalische Textur im Gegenteil darauf angelegt, dass Gestalten und lineare Verläufe gerade im «durchbrochenen Satz», also im Übersprung von einem Raster bzw. Instrument aufs andere entstehen. So wird beispielsweise die Artikulation «legato» äusserst sparsam verwendet, sondern vielmehr sehr genau ausdifferenziert, wie sich die Übergänge und Pausenlängen zwischen den Instrumenten gestalten.
Beide Ebenen, individuelles Raster und kollektive Neuverbindung, werden nochmals weiteren, verformenden Tendenzen unterzogen. Beispielsweise wird das Grundtempo über das ganze Stück langsamer, die dabei zu spielenden Notenwerte werden jedoch schneller. Hohe rhythmische Ereignisdichten werden anderseits durch eine Verlangsamung des harmonischen Rhythmus wiederum relativiert. So führen das spielerische Drehmoment der Schablone und ihre jeweils inkommensurablen Rasterpunkte auch zu einer charakterlichen Prägung des Stücks: Alle Bewegungen und Tendenzen ereignen sich immer in mehrere Richtungen gleichzeitig.
Da in der Komposition konsequent alle Referenzpunkte ausgespart bleiben, kommen die Verläufe nie an ein gemeinsames Ziel – ein kammermusikalisches Zusammenspiel, das sich jeweils nur in der Pause zeitlich genau treffen würde. Anders gesagt: Das Kompositionsprinzip erzeugt zwar eine beinahe unendliche Vielzahl an rhythmischen Figuren und Konstellationen und durch die fraktale Anlage kann die Ganzheit aller denkbarer Rhythmen potenziell Teil des Materials sein, doch zugleich sind dies alles nur immer feiner ziselierte Annäherungen um einen unendlich kleinen Referenzpunkt in der Mitte, der als akustisches «Loch» unhörbar bleibt – daher der doppeldeutige Titel.
Auf harmonischer Ebene benutzt die Komposition analoge Mittel, indem unter anderem das pythagoreische und das syntonische Komma harmonisch wirksam werden: Ähnlich wie bei der zeitlichen Organisation führt hier die konsequente Iteration eines Abstandes (Intervalls) in der Überlagerung letztlich zu irrationalen Zusammenklängen. Im Gegensatz zur rhythmischen, um virtuelle Mittelpunkte angelegten Disposition sind jedoch diese Tonfolgen nach hinten offen und bewegen sich wie Spiralen voneinander weg – was dem Stück ein weiteres charakteristisches Bewegungsmoment gibt.