• Werk-Details
  • Streichquartett Nr. 1 (2023)

Francisco Coll 1985-

Treibende Kraft in Francisco Colls erstem Streichquartett ist das Lied – Melodien und Gesangsweisen, die in Erinnerung bleiben, verschlüsselt und neu gestaltet werden. Der erste und der dritte Satz wird von Volksmusik getragen. Der Beginn wurde durch eine raue, lebhafte Aufnahme aus der Ukraine inspiriert, auf die Coll im Internet gestossen war, die inzwischen aber spurlos verschwunden ist. Im weiteren Verlauf des Satzes verwandeln sich Reste eines ukrainischen Tangos in einen wilden Paso Doble. Der dritte Satz, dessen Titel sich von den schmerzhaften Schreien des Flamenco ableitet, ist in den Klängen und der Spielweise der Cante-Jondo-Tradition verwurzelt. Die beiden Cantos-Sätze teilen kein gemeinsames musikalisches Material, sondern sind durch einen gewissen mystischen Charakter miteinander verbunden. Der erste Satz, der 2017 als eigenständiges Werk für das Cuarteto Casals geschrieben wurde und seinerseits auf einer von Colls Hyperludes für Violine basiert, ist sowohl introspektiv als auch erotisch. Jede Phrase wölbt und entfaltet sich innerhalb eines Atems und ahmt den Tonfall einer menschlichen Stimme nach. Cantos II beginnt mit einem Ende und endet mit einer Art Anfang. Als Ausgangspunkt dient der Schlussakkord von Anton Weberns Fünf Sätzen für Streichquartett; aus diesem harmonisch aussergewöhnlichen Klang heraus entwickelt sich eine ausdrucksvolle Musik mit hoquetus-artig behandelten Melodien und Arabesken, die auf einem Choral beruhen. Nachdem Coll sein Quartett in der Ukraine der Gegenwart begonnen hat, beendet er es mit einem Stück der ältesten bekannten schriftlich notierten Musik: einem Hurritischen Hymnus. Auch als «Hymne an Nikkal» bekannt, stammt dieser aus dem syrischen Ugarit des 12. Jahrhunderts vor Christus und liefert die Grundlage des eindringlichen Abschlusses dieser «Códices».