Konzerte Saison 2004-2005

  • 30.11.2004
  • 20.15
  • 79.Saison
  • Zyklus A
Stadtcasino, Hans Huber-Saal

Patricia Kopatchinskaja, Violine Anna Maria Pammer, Sopran

Die österreichische Sopranistin Anna Maria Pammer absolvierte das Linzer Musikgymnasium und studierte an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien Gesang, Violoncello, Lied und Oratorium sowie Musikdramatische Darstellung. Anschliessend war sie Mitglied des Internationalen Opernstudios des Opernhauses Zürich. Ein erster grosser Erfolg wurde ihre Mitwirkung in Udo Zimmermanns «Der Schuhu und die fliegende Prinzessin» unter der Leitung des Komponisten im Rahmen der Salzburger Festspiele 1995 und am Opernhaus Leipzig. Seither trat sie in der Wiener Kammeroper, in den Theatern von Ulm, Darmstadt, St. Gallen und Klagenfurt auf. Regelmässig arbeitet sie mit der Neuen Oper Wien und NetzZeit zusammen. Generell setzt sie sich mit neuer und neuster Musik auseinander und setzt sich auch für sie ein. In zahlreichen Konzerten sang sie unter Dirigenten wie Adam Fischer, Roger Norrington, Rudolf Barschai, Gary Bertini, Roberto Abbado, Philippe Herreweghe und Franz Welser-Möst. Kurtágs Kafka-Fragmente haben A. M. Pammer und P. Kopatchinskaja zusammen mit dem Komponisten erarbeitet und bereits mehrfach aufgeführt, u.a. im vergangenen Winter in Zürich.

Patricia Kopatchinskaja wurde 1977 in einer Musikerfamilie in Moldawien geboren. Mit sechs Jahren begann sie mit Violin- und Klavierunterricht. Sie studierte Violine und Komposition in Wien und Bern. Seit 1995 erhielt sie mehrere Preise, darunter 2000 den Henryk Szeryng-Preis in Mexico und 2001 den International Credit Suisse Young Artists Award. Sie spielt zwar gerne die gängigen Werke des Repertoires, auch bei den Violinkonzerten, aber sie ist immer auf der Suche nach Neuem. So verwundert es nicht, dass viele Komponisten und Komponistinnen (u.a. Violeta Dinescu) Stücke für sie geschrieben haben. 2002 debütierte sie als Solistin mit den Wiener Philharmonikern (Sibelius) beim Lucerne Festival. Bereits hat sie weltweit Konzerttourneen mit Orchester und in Solorezitals unternommen. 2004 stehen als Höhepunkte die Salzburger Festspiele, eine Japan-Tournee und die Uraufführung des für sie geschriebenen Violinkonzerts von Otto Zykan an. Über einen ihrer Basler Auftritte hiess es 2002: «In dieser Geigerin (steckt) ein Ausdruckswille, den sie nicht nur mit hervorragenden technischen Mitteln, sondern vor allem mit viel Freude, Lust am Spontanen und ohne Scheu vor Tabubrüchen ihrem Publikum weitergibt.» Ihr Konzert im vergangenen März mit Werken von Beethoven. Brahms, Webern, Cage, Bartók und Ravel begeisterte unser Publikum.

Max E. Keller

Keller, 1947 in Aarau geboren, studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte sowie Komposition bei Hans Ulrich Lehmann, Helmut Lachenmann, Nikolaus A. Huber und Thomas Kessler und war Stipendiat der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF. Von 1966–1973 spielte er Freejazz und improvisierte Musik nach Konzepten auf dem Klavier und auf elektronischen Instrumenten. Seit 1973 hat er über 90 Kompositionen für verschiedenste Besetzungen geschrieben, auch elektronische Musik. Oft vertonte er Texte verschiedenster Autoren und in verschiedener Besetzung und zudem oft politisch engagierte, auch in szenischen Werken, so etwa die Miniaturoper «Egon - aus dem Leben eines Bankbeamten» mit fast 30 Aufführungen. Seine Kompositionen wurden in ganz Europa, in Asien, in Nord- und Südamerika und in Australien aufgeführt und gesendet. Mehrere Arbeitsaufenthalte in Berlin. Die CDs «Kammermusik» bei «col legno» und «Klingen im Gegenwind» (Jecklin Edition) sind seinen Werken gewidmet. 2003 erschien die CD «Max E. Keller» (Grammont Portrait) mit fünf Kammermusikwerken und einem Orchesterwerk (Tonhalle-Orchester unter David Zinman). Gegenwärtig arbeitet Keller an der Kammeroper «Die Axt» nach Frischs «Graf Öderland», einem Auftrag der Komischen Oper Berlin.

Die Vorpremiere des auf Anregung von Patricia Kopatchinskaja geschriebenen, 11 Minuten dauernden Werkes «Löwen Löwen» fand am Vortag im Rahmen des «Klangnovembers Aarau» im Kultur- und Kongresshaus Aarau statt. Der Komponist schreibt zu seinem neusten Werk:

In lakonischen, melancholischen und zugleich spielerisch-poetischen Miniaturen spiegelt Klaus Merz [* 1945 in Aarau] in «Löwen Löwen» [Venezianische Spiegelungen, erschienen 2004] überraschende Facetten der vielbesungenen Lagunenstadt Venedig. Ungewohnte Kombinationen von Alltagsereignissen, Beobachtungen, Assoziationen und Reflexionen erzeugen oft eine hintergründige Doppelbödigkeit, die ein Kriterium für die Auswahl der sieben kurzen Texte und zugleich ein Ausgangspunkt der Vertonung ist. Streckenweise scheint die Musik wie auf zwei Ebenen zu verlaufen, nicht nur im Gegeneinander von Instrument und Stimme, sondern auch innerhalb der einzelnen Partien – und doch finden sich die zwei Akteure unversehens wieder zu einer Einheit zusammen, und sei es zu einer ironisch-überspitzten. «Nachgeben heisst das Gesetz der Lagune» – diese allgemeine Bewegungsmaxime ist ein weiteres Grundmodell der Vertonung. Es wird nicht nur in naheliegendster Form als Decrescendo umsetzt, sondern es können sich neben der Lautstärke auch andere Dimensionen des Klanggeschehens wie Tonlänge und -höhe, Klangfarbe oder Bewegung zurückentwickeln. Und nachgebendes, zurücksteckendes Understatement ist ja der Grundton der Merzschen Texte. Ein drittes musikalisches Grundmodell artikuliert auch das oft unausgesprochene Vorstossen, das einem Nachgeben vorausgeht, z.B. in einem Crescendo, das plötzlich in ein leises Zerfasern und Zerbröckeln umschlägt. Daneben werden auch andere musikalische Mittel verwendet, denn es geht weniger um illustrierende Verdopplung als um interpretierende Erweiterung und Entschlüsselung des Textes.

György Kurtág

Der bei uns schon mehrfach aufgeführte, diesen Winter bei uns mit drei Werken vertretene ungarische Komponist, in Lugosch in Siebenbürgen (Rumänien) geboren, wurde erst nach seiner Übersiedlung nach Budapest 1948 ungarischer Staatsbürger. Er studierte wie sein Kollege Ligeti bei Sándor Veress, 1957/58 bei Messiaen und Milhaud in Paris. Nach seiner Rückkehr begann er mit neuer Konzeption sein für ihn typisches Werk zu entwickeln. Die beiden Wurzeln sind Webern (prägnante Kürze) und sein im doppelten Wortsinn Landsmann (da er ebenfalls auf rumänischem Staatsgebiet geboren wurde) Bártok (periodisches Denken).

Die Kafka-Fragmente, der Psychologin Marianne Stein gewidmet und 1987 an den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, sind dafür typisch. Die oft auf ein paar wenige Worte beschränkten Texte (aus Kafkas Tagebüchern 1910–1923, der Erzählung Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, zwei aus Briefen und in einem Fall aus Elias Canettis Studie über Kafkas Briefe an Felice Bauer «Der andere Prozess») garantieren auch musikalisch eine extreme Kürze. Die meist ohne Kontext auftauchenden Fragmente, oft nur Einzelworte, ergeben keine zusammenhängende Handlung oder Entwicklung des Textes, sondern sind auf Impressionen, Beobachtungen, banale Erlebnisse reduziert. In ihrer Expressivität ergeben sie mit wenigen Worten eine eigene Stimmung, einen den Hörer persönlich berührenden Ausdruck. Mit unendlich differenzierter Ausarbeitung gibt Kurtág den beiden Ausführenden die Möglichkeit, von Moment zu Moment umschlagend neue Situationen darzustellen, neue Rollen (nicht im Sinn einer sich entwickelnden Theaterpartie) zu spielen. Vertont werden nicht eigentlich die Worte, sondern Seelenzustände und die Befindlichkeit der verdämmernden k. u. k. Monarchie. Das Werk kann bezüglich Umfang (60-70 Min.) und Gewicht neben die grossen Liederzyklen des 19. Jahrhunderts gestellt werden.

In einem Interview (NZZ 3.2.2004) äusserten sich die beiden Interpretinnen zu Kurtág und zu den Kafka-Fragmenten:

A.M.P.: «Wir haben vor ungefähr zwei Jahren die Chance gehabt, das Werk für ein Konzert in Linz einzustudieren. Bei dieser Gelegenheit haben wir uns künstlerisch kennen gelernt. Dann konnten wir die Kafka-Fragmente mit Kurtág selber durchgehen, was natürlich toll war.»

P.K.: «Er kam eigentlich nur, um etwa zwanzig Minuten abzuhören – ein Drittel des Stücks. Dann hat er gesagt: Weiter, weiter, weiter…und blieb dreieinhalb Stunden.»

A.M.P.: «Er hat ja den Ruf, anspruchsvoll und streng zu sein, war aber ganz phantastisch. Es war sehr interessant zu erleben, wie stark er in der Tradition steht und gerade daraus seine Eigenständigkeit entwickelt hat. Oft sagte er: Das ist doch Brahms, das ist Bach und das ist Bartók, das ist dieses Volkslied und so weiter. Ein richtiges Bekenntnis zu den Wurzeln. Dann war einmalig, wie er uns beiden nicht nur erklären konnte, was die musikalische Aussage ist, sondern auch, wie man dort hinkommt.»

Für A.M.P. ist das Besondere an diesem Werk «die Treffsicherheit: Wie Text und Musik hundertprozentig zusammenpassen.»

P.K.: «Die einzelnen Stücke sind miteinander fast gar nicht verbunden. Aber das ist nur scheinbar willkürlich. Das ist irgendwie wie ein ganzes Leben.»

rs