Konzerte Saison 1965-1966

  • 1.2.1966
  • 20:15
  • 40.Saison
Stadtcasino, Festsaal

Végh-Quartett (Budapest/Basel)

in Budapest bis mindestens 1949
Man kann sich mit Recht fragen, welches Streichquartett des 19. Jahrhunderts wohl das kühnste gewesen sein mag, Beethovens opus 130 (in der Urfassung mit der Grossen Fuge) oder das von den Juilliards 1986 gespielte 131. Entscheiden wir uns heute aufgrund des Programms für op. 130/133. So lässt sich die Entwicklung im Rahmen der «Wiener Klassik» in den 37 Jahren von Mozarts KV 575 zu Beethovens Spätwerk einigermassen ermessen. Der schrieb im Auftrag des russischen Fürsten Galitzin das B-dur-Quartett als drittes nach op. 127 und 132, hat aber im Gegensatz zum op. 59 für den Grafen Rasumowsky keinen Bezug zu russischer Musik gesucht. Mit den Opera 131 und 132 bildet es eine weitere Trias, nicht nur was die Kühnheit betrifft: Sie sind durch ein wandelbares, von einem steigenden und fallenden Intervall gebildeten Viertonmotiv verbunden. Im B-dur-Quartett tritt es am deutlichsten mit zwei kleinen Sekundschritten (G – Gis – f – e) als Beginn des ersten Fugenthemas auf. In den drei Werken wird zudem die Vierzahl der Sätze überschritten. Opus 130 umfasst deren sechs (op. 132 hat fünf, op. 131 sieben), denn Beethoven verdoppelt in komplementärer Weise den Tanzsatz (scherzohaftes Presto und beschwingt heitere Danza tedesca, die kürzesten Sätze) sowie den langsamen Satz: leichtes (Spielanweisung: poco scherzando), doch höchst kunstvolles Andante und tiefsinnig-expressive Cavatina. Der Kopfsatz mit langsamer Einleitung entspricht äusserlich der üblichen Satzform, greift aber mehrfach den Adagio-Teil wieder auf. Ein Fugenfinale – man denke an Haydns op. 20 oder an Beethovens eigenes op. 59/3 – ist nichts Ungewöhnliches. Auch dass bei beiden Auftragsserien, dem op. 59 für Rasumowsky und der neuen Galitzins, eine Fuge das letzte der jeweils drei Quartette beschliesst, ist kaum Zufall. Aber da ist diese Grosse Fuge! Sie irritierte bei der ersten Aufführung durch das Schuppanzigh-Quartett am 21. März 1826 am meisten: «Den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch», hiess es in der «Allgemeinen Musikalischen Zeitung». Die Sätze 1, 3 und 5 konnte «Ref.» immerhin halbwegs goutieren, mochte er sie auch als «ernst, düster, mystisch, wohl auch mitunter bizarr, schroff und capriciös» bezeichnen. Das «Scherzo und der Deutsche» kamen bei Publikum und Kritiker bezeichnenderweise gut an, so dass «mit stürmischem Beyfall die Wiederholung verlangt wurde». Beethoven hat im November 1826 auf Wunsch des Verlegers Artaria die als tantôt libre, tantôt recherchée bezeichnete Grande Fugue durch ein konventionelleres Allegro in Sonatenform, seine letzte Komposition, ersetzt und die Fuge gesondert dem Erzherzog Rudolf, dem Widmungsträger vieler ungewöhnlicher Werke, zugeeignet. Was macht das Aussergewöhnliche aus? Zunächst die Länge. Zusammen mit der das Thema in vier Varianten exponierenden Overtura dauert es eine gute Viertelstunde und ist einer der längsten Quartettsätze Beethovens. Zudem handelt es sich nicht um eine Fuge oder Doppelfuge, sondern um eine Reihe von Einzelfugen, welche in ihrer Abfolge eine Art freier Sonatensatzform ergeben. Die «Exposition» (rund 200 Takte) umfasst zwei Doppelfugen in B-dur und Ges-dur; die erste beginnt mit der extremen, sprunghaften Form der vierten Themenvariante. Hinzu kommt die Art der Themen. Sie sind zwar gut zu erkennen: Variante 1 etwa an ihren Sekundschritten, Variante 4 an ihren Dezimensprüngen und dem punktierten Rhythmus. Doch ihre «moderne», nicht unbedingt melodiöse Gestalt und das ständige Ineinanderübergehen von Varianten und Verarbeitungen machen ein Verfolgen des Ablaufs schwierig. Dazu kommen harmonische Kühnheiten und klangliche Extreme, nicht nur im Dynamischen. Beethoven äusserte sich einmal: «Eine Fuge zu machen ist keine Kunst. Aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten, heut’ zu Tage muss in die althergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetisches Element kommen.» Die Auffassung Beethovens vom «poetischen Element» und die der ersten Hörer der Grossen Fuge war aber wohl doch verschieden – ja, es soll sogar heute noch Hörer geben, welche von diesem Stück schockiert sind.
Formal ist das erste der Rasumowski-Quartette eine Art „Variationenfolge“ über die Sonatensatzform. Der erste Satz (ursprünglich war eine Wiederholung von Durchführung und Reprise, nicht aber der Exposition geplant) verzichtet auf Wiederholungen und breitet stattdessen neben vielen thematischen Einfällen grosse, ungewohnte Steigerungen aus. Das fünfteilige scherzohafte Allegretto verbindet das Scherzoschema mit dem Sonatensatz. Als wollte Beethoven die Ungewöhnlichkeit auch dieses Satzes demonstrieren, gab er ihm nicht die Tonart F-dur, sondern B-dur, die eigentlich einem langsamen Satz zukäme. Dieser wiederum steht in f-moll und bildet erneut einen Sonatensatz. Er steht als Adagio molto e mesto in grösstem Gegensatz zum vorangehenden Scherzo und kommt mit geradezu barocken Trauerfloskeln daher. Die Tiefe dieses Satzes kann mit dem Trauermarsch der Eroica verglichen werden. Beethoven hat in die beiden ersten Quartette bekanntlich russische Melodien eingebaut, wohl zu Ehren des Auftraggebers. Was er aber daraus macht, ist erstaunlich. Aus einem volksliedhaften Klagelied der russischen Sammlung von Iwan Pratsch (1790 erstmals in St. Petersburg erschienen – Beethoven besass eine Ausgabe) wird ein Rondothema mit geradezu tänzerischer Energie – doch handelt es sich gar nicht um ein echtes Rondo, sondern wieder um einen Sonatensatz. Beethoven arbeitet mit Überraschungseffekten, indem er mit Konventionen bricht, daraus aber eine vollkommen überzeugende Neugestaltung bildet. Ein Höhepunkt des Quartetts ist sicher der Übergang vom langsamen zum Schluss-Satz: Aus einem beinahe banalen Überleitungstriller der Violinkadenz wächst das Finalthema heraus.

Ludwig van Beethoven 1770-1827

Streichquartett Nr. 13, B-dur, op. 130, mit der ursprünglichen Schlussfuge op. 133 anstelle des nachkomponierten Rondos (1825)
Adagio ma non troppo – Allegro
Presto
Andante con moto, ma non troppo
Alla danza tedesca: Allegro assai
Cavatina: Adagio molto espressivo
Overtura: Allegro – Meno mosso e moderato –
Fuga: Allegro – Meno mosso e moderato – Allegro molto e con brio
Streichquartett Nr. 7, F-dur, op. 59, Nr. 1 «1. Rasumovsky-Quartett» (1805/06)
Allegro
Allegretto vivace e sempre scherzando
Adagio molto e mesto –
Thème russe: Allegro – Adagio, ma non troppo presto