Iannis Xenakis wurde als Sohn griechischer Eltern im rumänischen Braila geboren. Er studierte in Athen Architektur. Der im Kampf gegen den Faschismus schwer verwundete Widerstandskämpfer fand 1947 in Frankreich Asyl und wurde in den fünfziger Jahren Mitarbeiter im Atelier von Le Corbusier. Obwohl er eine ganze Reihe eigener Bauten konzipierte, ist er vor allem als Komponist bekannt geworden. Architekt (grafische Skizzen als Ursprung der Partituren) und Mathematiker (Computerberechnungen zufälliger Reihen) blieb er auch beim Komponieren. Sein erster grosser Erfolg war 1955 die Aufführung des Orchesterstücks Metastasis in Donaueschingen. Aus der Folgezeit stammt die erste Quartettkomposition ST/4–1,080262 (1955–1962), für die Xenakis sich (am 8.2.1962!) einer Computer-Berechnung nach stochastischem (darum «ST»), d.h. von der Wahrscheinlichkeit bestimmtem Zufallsprinzip, bediente; «4» steht für die vier Instrumente. Über zwanzig Jahre später folgte das dem Arditti Quartet gewidmete Quartett «Tetras». Auch hier besagt der Titel mit der Anspielung auf das griechische Wort für «vier» «Quartett». Das hochvirtuose Stück ist in neun Unterabteilungen gegliedert. Es «stellt wilde kommunikative Verschlingungen, das Ineinander herber Gesten der vier Protagonisten vor» (R. Schulz).
Die Komposition In the realms of the unreal, Ende 2009 entstanden, ist – nach Akroate Hadal (1995) und Settori (1999) – Olga Neuwirths dritte Auseinandersetzung mit der Gattung Streichquartett. Mit dem Werktitel setzt die Komponistin dem zurückgezogen als Hausmeister lebenden amerikanischen Künstler Henry Darger (1892-1973) ein Denkmal, dessen über 15.000 Seiten umfassendes und mit mehreren hundert Zeichnungen und Aquarellen illustriertes Buchmanuskript The Story of the Vivian Girls, in What is known as the Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinnian War Storm, Caused by the Child Slave Rebellion erst nach seinem Tode entdeckt wurde. Der Verweis auf die von Ideen überquellende literarische Schöpfung liefert – metaphorisch gedeutet – einen Anhaltspunkt für das zentrale Charakteristikum von Neuwirths Musik: die ständigen, mitunter stark kontrastierenden Wechsel von Texturen unterschiedlichen Ausdrucks und Charakters, aus denen die Komposition zusammengesetzt ist. Ausgangspunkt des Quartetts ist ein laut angestimmtes und lang gehaltenes, engräumiges Vierteltoncluster im Bereich der eingestrichenen Oktave, das um die Tonhöhe a› gelagert ist; ihm folgt nach einer Pause ein ähnliches, rhythmisch und dynamisch anders ausgearbeitetes Cluster mit Zentrum g›. Mit diesen eng aufeinander bezogenen Klangsituationen ist ein Moment beschrieben, das in mehr oder weniger stark abgewandelter Form im Werkverlauf immer wiederkehrt und auch in einer auf den Zusammenklang a-g erweiterten, mit perkussivem Pizzicato artikulierten Gestalt das Stück beschliesst. Vermittelt über die in Tonhöhen übersetzten Namensinitialen A und G versteckt sich darin ein Hinweis auf den «in memoriam»-Charakter von Neuwirths Werk, den die Komponistin zudem mit der Bemerkung «in loving memory of Alfreda Gallowitsch» ausdrücklich benennt. Wie eine Art Erinnerungszeichen durchzieht diese Tonhöhenkonstellation daher die Texturen des Streichquartetts, welche die teils unerwarteten Wendungen immer wieder an eine konkreten Klanggestalt zurückbindet und über diese zugleich die musikalische Gedankenfülle kontrolliert. [Stefan Drees]
Über sein Streichquartett Nr. 7 schreibt James Clarke: «Es gibt Momente, in denen sich eine Komposition trotz der Freiheit des Komponisten mehr als gewöhnlich selbst formt. Jedes Werk ist ein Wechselspiel zwischen den anfänglichen und späteren Ideen des Komponisten und einer Reaktion auf diese Ideen, ausgelöst durch die Art und Weise, wie das Werk begonnen hat, sich zu manifestieren. Mit anderen Worten: eine Komposition entwickelt ein Eigenleben. Durch das Erforschen von Zahlenmustern oder logischen Zusammenhängen (eine Idee, die eine neue hervorruft) gibt das musikalische Werk dem Komponisten oft neue Wege zurück. Dies ist einer der aufregendsten Aspekte beim Schaffen von Musik: ein Wechselspiel in beide Richtungen, Ideen, die neue Ideen hervorrufen, oft in hohem Tempo. Und diese Ideen sind neu für den Komponisten: er wäre nicht darauf gekommen, wenn er nicht zugelassen hätte, dass die Musik anfängt, sich selbst zu komponieren. Das Ergebnis kann sogar für den Komponisten verblüffend sein. Die Komposition kann Dinge tun oder verweigern, die der Komponist normalerweise erwarten würde. Hier wird zum Beispiel eine melodische Linie präsentiert, die von vier Akkorden begleitet wird. Die numerischen Berechnungen bei der Schaffung sowohl der Linie als auch der Akkorde sind logisch und sehr präzise. Dies bildet den ersten Teil des Streichquartetts Nr. 7. Der zweite Teil besteht aus einem einzigen Akkord, der von drei Instrumenten gehalten wird. Die erste Violine spielt einzelne Töne, manchmal zwei gleichzeitig – Erinnerungen oder Splitter dessen, was vorher war.»
Am 21. Januar 2010 hat das Arditti Quartet Helmut Lachenmanns drei Streichquartette («Gran Torso», «Reigen seliger Geister», «Grido») in einem Konzert der IGNM und der Hochschule für Musik in Basel gespielt. War das erste Quartett noch stark von der Geräuschhaftigkeit seiner «Musique concrète instrumentale» bestimmt (Lachenmann macht alle Materialien der Instrumente zu Klangproduzenten, traktiert sie mit ungewöhnlichen Geräten (Bleistifte etc.) und ruft damit überraschende Klänge hervor), so findet sein drittes Quartett zu «normalen» Klängen zurück. Es ist dem Arditti Quartet gewidmet (Uraufführung am 2.11.2002 in Melbourne) und spielt in seinem Beinamen «Grido» (italienisch «Schrei») mit den Anfangsbuchstaben der Vornamen der damaligen Quartettmitglieder: Graeme Jennings, Rohan de Saram, Irvine Arditti und Dov Scheindlin. Es ist gemäss Frank Hilberg «geprägt von tonlich-klanglichem Volumen, ist runder, klassischer, orchestraler. Die klaren Tonhöhen dominieren, rasende Skalen und Arpeggien bestimmen das Spiel.» Laut Martin Kaltenecker hat «Grido» eine neue Expressivität dazugewonnen – das Land Musik wird frei besungen und gefeiert, wenn auch nie ohne reflexive Brechung oder aufweckende Störung – in den Choral am Ende kommt ein scharfer Riss, ein Bellen, bevor die Musik zusammensackt.» Lachenmann selbst sagt: «Komponieren bedeutet für mich jedes Mal mich mit einem Trauma angstvoll/lustvoll auseinanderzusetzen und anhand solcher empfundener und angenommener kompositionstechnischer Herausforderungen eine klingende Situation zu verursachen, die mir selbst nicht neu und doch fremd ist, in der ich mich verliere und so erst mich wiederfinde.»
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