Konzerte Saison 2017-2018

  • 24.10.2017
  • 19:30
  • 92.Saison
  • Zyklus A
Oekolampad Basel

18.45 Uhr: Einführung zum Auftragswerk mit Andrea Lorenzo Scartazzini

Quatuor Diotima (Paris)

Im Jahr 1996 von Absolventen des Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris gegründet, hat sich das Quatuor Diotima zu einem der weltweit gefragtesten Ensembles entwickelt. Der Name spiegelt die musikalische Doppelidentität des Quartetts wider: Das Wort Diotima ist aus der deutschen Romantik entliehen – Friedrich Hölderlin gab in seinem Roman Hyperion diesen Namen der Liebe seines Lebens – und ist zugleich ein Bezug zur Musik aus unserer Zeit, man denke nur an Luigi Nonos Werk «Fragment-Stille, an Diotima». Das Quatuor Diotima ist geschätzter Partner vieler Komponisten wie Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Toshio Hosokawa und vergibt zugleich Kompositionsaufträge an Komponisten aller Stilrichtungen. Das Quartett hat sich der zeitgenössischen Musik verschrieben, ohne sich jedoch durch diese limitieren zu lassen. In seinen Programmen ermöglicht es durch die Verschmelzung von klassischen mit zeitgenössischen Stücken einen neuen Blickwinkel auf Werke von Komponisten wie Bartók, Debussy und Ravel, auf die späten Quartette Schuberts und Beethovens, sowie auf die Komponisten der Zweiten Wiener Schule oder auch Janáček. Neben zahlreichen internationalen Auftritten spielt das Quatuor Diotima bei allen europäischen Festivals und Konzertreihen und unternimmt regelmässig Tourneen durch die USA, Asien und Südamerika. Für seine CD-Einspielungen erhielt es von der Französischen Presse fünf Diapasons d’or (Quartette von Janáček 2008; Werke amerikanischer Komponisten wie Crumb, Reich und Barber 2011). Anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Quartetts gab es 2016 Veröffentlichungen einer CD-Box, die sich der Zweiten Wiener Schule widmet, sowie der ersten CDs einer neuen Reihe mit Komponistenportraits (Miroslav Srnka bzw. Gérard Pesson).

Bartóks erstes gültiges Quartett, dem von 1896 bis 1899 bereits drei Quartette vorangegangen waren, gehört in die Übergangsphase zum eigentlichen Personalstil. Das ab 1907 geplante Werk gehört in die gleiche Schaffensperiode wie das für seine frühe Liebe, die Geigerin Stefi Geyer, geschriebene, von ihr aber bis zu ihrem Tod 1956 unter Verschluss gehaltene und nicht gespielte 1. Violinkonzert. Das Stefi Geyer-Motiv, welches dort die Grundlage für die Polyphonie des Satzes bildet, tritt im Eingangs-Lento des Quartetts in einer Moll-Variante mit zwei absteigenden Sexten (dis - fis / ais – c) auf. Bartók hat es als Begräbnisgesang beschrieben und scheint darin zugleich Abschied von seiner Jugendliebe und von der Spätromantik nehmen zu wollen. Bereits in seinem 1. Quartett hält sich Bartók nicht an vorgegebene Formschemata, weder im Grossen noch im Detail der einzelnen Sätze. Es beginnt mit einem Doppelkanon, der die Schnelligkeit der Teile immer mehr steigert. Dass dabei das Cello mehrfach ein pentatonisches Bauernlied zitiert, zeigt, dass Bartók schon damals unter dem Eindruck ungarischer Volksmusik stand. Als ein Zeichen der Zeit wird man die bei ihm auch später häufigen Ostinati werten dürfen, wie sie im Allegretto und im Schlusssatz auftauchen. Dieser gipfelt zuletzt in wilder Energie. Ist das Werk auch noch nicht rundum typischer Bartók, so deuten doch viele Elemente an, was später seine Kunst ausmachen wird, selbst wenn noch einige Romantizismen einwirken.

Der in Basel geborene Andrea Lorenzo Scartazzini besuchte das Humanistische Gymnasium und studierte danach Germanistik und Italianistik an der Universität Basel sowie Komposition bei Rudolf Kelterborn in Basel und Wolfgang Rihm in Karlsruhe. 1999/2000 war er für ein Studiensemester an der Royal Academy of Music in London. Er erhielt mehrere Preise, darunter den Studienpreis der Ernst von Siemens Stiftung München, die Jakob Burckhardt-Auszeichnung der Goethe-Stiftung Basel sowie den Alexander Clavel-Preis Riehen. 2004 war er Composer in residence an der Uni Witten Herdecke, 2011 Gast im Swatch Art Peace Hotel in Shanghai, 2012/13 Stipendiat am Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia Bamberg. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Opern Wut (UA Theater Erfurt 2006; Theater Bern 2010) und Der Sandmann (UA Theater Basel 2012; Oper Frankfurt 2016). Seine dritte Oper Edward II. kam im Februar 2017 an der Deutschen Oper Berlin zur Uraufführung.

Zu seinem Streichquartett Nr. 1 schreibt Scartazzini: «Mein Streichquartett gliedert sich in sechs Sätze – drei kurze (I Vorspiel, III Intermezzo, V Melodie) und drei unbetitelte längere (II, IV, VI).

Was im Vorspiel als Grundmaterial erklingt – ein lapidarer gezupfter Gestus, eine vierteltönige, traurige Kantilene und ‚geräuschhaft orchestrierte’ Stille – taucht in verwandelter Form in den Folgesätzen immer wieder auf und bildet somit eine Art Adagio interrotto innerhalb der ganzen Komposition: Inseln des Verweilens, Horchens und Innehaltens.

Während die Miniaturen in reduzierter Besetzung erklingen (im Vorspiel Cello und Bratsche, im Intermezzo Cello, Bratsche, 2. Violine, in der Melodie ausschliesslich die beiden Violinen), spielt in den Hauptsätzen das Quartett in voller Formation. Nr. II thematisiert ein Accelerando von langsam schwingenden Akkorden hin zu einem Prestissimo von maximaler ‚Helle’ und Kraftentfaltung, wobei dem Weg über verschiedene Beschleunigungsstufen viel Raum gegeben wird. Zuletzt erlöschen diese klingenden Feuerräder überraschend und zurück bleibt eine nunmehr entkräftete, aschgraue Pendelbewegung, die schattenhaft an den Anfang des Satzes erinnert.

In Nr. IV erwächst aus traumartigen Texturen ein zunächst hypnotisch melodischer Singsang, dessen Gesten sich mit der Zeit verselbständigen und zerlegen. Die Schönheit des Anfangs kippt in spröde Bedrohlichkeit.

Der letzte Satz des Quartetts (Nr. VI) nimmt Bezug auf zwei musikalische Ideen aus der Oper Edward II. Neben dramatischen Zuspitzungen stehen sowohl Passagen von resignativer Schwere als auch von lyrischer Zartheit. Den Schluss bildet eine kurze Coda mit Elementen des Vorspiels: zu dumpfen repetitiven Pizzicati verdampft – um ein Vielfaches beschleunigt – die melancholische Kantilene in höchster Höhe.

Die Klangsprache des Quartetts umfasst eine grosse harmonische Bandbreite, von filigranen Dur-Klängen bis zu schärfster Dissonanz, ohne dass diese Mittel polystilistisch wirken. Die über weite Strecken eingesetzte Vierteltönigkeit dient der Erweiterung des chromatischen Spektrums zur Steigerung der Expressivität.»

Schuberts Neubeginn im Quartettschaffen scheiterte zunächst – wie jener der Sinfonie. Anders als dort mit vier Versuchen in den Jahren 1818 bis 1824 gibt es für Streichquartett nur einen abgebrochenen Anlauf, den c-moll-Satz von 1820 (D 703), dem noch 41 Takte eines langsamen Satzes folgen. Operierte dieser Sonatensatz mit extremen Gegensätzen, c-moll-Unruhe einerseits und lyrisch weitgespannter Kontrastmelodie im Seitensatz andererseits, so lebt das vier Jahre später vollendete a-moll-Quartett fast durchweg vom lyrisch Zurückgenommenen. Unruhe fehlt aber auch hier nicht. Das a-moll-Quartett sei, so schrieb Schuberts Freund, der Maler Moritz von Schwind, «im ganzen sehr weich, aber von der Art, dass einem Melodie bleibt wie von Liedern, ganz Empfindung». Tatsächlich klingen Lieder an: Im 1. Satz, der weich zwischen der Unruhe der Begleitfiguren und der Ruhe der Kantilene schwankt, ist es das zehn Jahre ältere Gretchen-Lied «Meine Ruh ist hin» (D 118). Zu Beginn des wenig tanzhaften Menuetts erklingt im Cello ein Motiv, das an den Beginn des Schiller-Liedes «Die Götter Griechenlands» (D 677, 1819) erinnert, und das A-dur-Trio zitiert daraus die Melodie von «Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur». Anders als im zeitgleich geplanten d-moll-Quartett, welches die Unruhe und Unheimlichkeit des c-moll-Satzes wieder aufgreift, verwendet Schubert im 2. Satz 16 Takte lang nicht etwa ein Lied, sondern den 2. Entre-Act aus der Schauspielmusik zu «Rosamunde», schreibt aber keine Variationen dazu. (Das wird er 1827 im B-dur-Impromptu D 935/3 nachholen.) Das liedhafte Stück dient im Schauspiel nachdenklichem Zurückblicken – und so wirken auch die Anklänge im Quartett. Sogar das alla zingarese im Finale legt mehr Gewicht auf Besinnlichkeit als auf Kehraus. In diesem Zitieren zeigt sich nicht, wie man lange geglaubt hat, Schuberts Unfähigkeit, unabhängig von Liedern zu komponieren, sondern ein gezielter, in der entscheidenden Phase der Neuorientierung reflektierender Rückblick, wie es auch im d-moll-Quartett mit den Liedvariationen über «Der Tod und das Mädchen» und in Anklängen an «Erlkönig» geschieht.