Das JACK Quartet spielt fast nur neue und neuste Musik. Ihm offenbar wichtige Ausnahmen macht es mit Werken, die aus dem 14. und 15. Jahrhundert stammen und nicht für Streichquartett komponiert wurden. Es sind Vokalkompositionen, die von den Mitgliedern des Quartetts für Streicher adaptiert wurden. (Die im Saisonprogramm vorgesehenen Stücke von Machaut und Dufay entfallen bzw. werden durch das Quartett von Crawford ersetzt.) Sie gehörten damals zur Avantgarde. Der um 1320 für die Notationstechnik geprägte und um 1900 zur Epochenbezeichnung ausgeweitete Begriff Ars nova deutet das an. Seit einigen Jahrzehnten gebraucht man zudem für die Entwicklung zwischen etwa 1375 und 1430 den Begriff Ars subtilior, „verfeinerte Kunst“. Ihr ist Rodericus zuzurechnen. Was man von ihm weiss oder zu wissen glaubt, ist hypothetisch, sogar der Name. Im Codex Chantilly Ms. 546 im Musée Condé in Chantilly findet sich als Nr. 77 die Motette „Angelorum psalat tripudium“, überschrieben mit „S.UCIREDOR“ – daraus lässt sich der Name Rodericus erschliessen. Der Codex entstand um 1400. In diese Zeit datiert man auch Rodericus und hat ihn mit verschiedenen Komponisten der Zeit zu identifizieren versucht. Das ursprünglich zweistimmige Stück gilt als rhythmisch höchst komplex und schwierig zu transkribieren. Das bearbeitende Mitglied des JACK Quartet, Christopher Otto, schreibt: „Für meine Bearbeitung habe ich auf die Transkription von Nors S. Josephson zurückgegriffen. In seiner Interpretation ergeben die Notenformen eine radikale Erweiterung des rhythmisch Möglichen, indem sie eine viel reichere Verschiedenheit im Tempo und in der Notendauer bezeichnen als es die meiste westliche Musik vor dem 20. Jahrhundert tat. Ich habe der 1. Violine und der Viola die beiden originalen Stimmen zugewiesen und fügte die 2. Violin- und Cellostimme hinzu, um das zugrunde liegende Netz dieser komplexen Rhythmen klarer werden zu lassen.“
Es überrascht, dass manches eben Erwähnte, etwa die Aufteilung der Instrumente Ottos, vergleichbar in Carters 3. Streichquartett auftaucht. In diesem ebenfalls, insbesondere rhythmisch, als äusserst schwierig geltenden Werk lässt Carter zwei Duos, gebildet aus 2. Violine und Bratsche (Duo II, in der Partitur oben notiert) bzw. 1. Violine und Cello (Duo I, unten), nebeneinander spielen. Dabei überschneiden sich nicht nur verschiedene Rhythmen und Tempi bzw. Charaktere, sondern auch die einzelnen Abschnitte. So wird ein Abschnitt von einem Duo wieder aufgenommen oder weitergeführt, wenn das andere Duo bereits bei einem andern Teil angelangt ist. Dadurch werden die vier „Sätze“ des Duos I auf die sechs Teile des Duos II aufgeteilt, was dazu führt, dass bereits absolvierte Passagen im neuen Teil wieder aufgegriffen werden, aber auch dazu, dass mehrfach das eine Duo pausiert, während das andere sein Konzept weiterführt. Ähnliches gilt für die den beiden Duos jeweils zugewiesene Tonstruktur und die Intervalle sowie für eine freie Rubato-Spielweise mit unregelmässigen Rhythmen beim Duo I gegen die rhythmisch strenge beim Duo II. All dies führt nicht nur zu sich reibenden Tönen, sondern zu miteinander konkurrierenden polyrhythmischen Klanggebilden. Den jeweiligen entsprechend benannten Passagen sind zudem folgende Intervalle zugewiesen: Duo I: Furioso – Grosse Septime / Leggerissimo – Reine Quarte / Andante espressivo – Verminderte Sexte / Giocoso – Kleine Terz // Duo II: Maestoso – Reine Quinte / Grazioso – Verminderte Septime / Giusto meccanico – Tritonus / Scorrevole – Verminderte Sekunde / Largo tranquillo – Grosse Terz / Appassionato – Grosse Sexte. Das Werk wurde am 23. Januar 1973 vom auftraggebenden Juilliard String Quartet uraufgeführt. Carter hielt nach dem 5. Quartett von 1994/95 sein Streichquartettschaffen für abgeschlossen. Mit der heutigen Aufführung des 3. Quartetts, knapp zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten im Alter von beinahe 104 Jahren, kommt sein Quartettzyklus in unseren Konzerten zum Abschluss. In Basel ist Carter weiterhin dauernd präsent, denn sein Nachlass wird in der Paul Sacher-Stiftung aufbewahrt.
Ruth Crawford war sieben Jahre älter als Carter (nach dessen 4. Quartett am 25. Januar 2008 die Ardittis ihr Quartett bereits bei uns gespielt haben), ist aber schon 1953 gestorben. In den 20er und 30er Jahren war sie eine wichtige Vertreterin der amerikanischen Avantgarde. Sie befasste sich mit Schönbergs Zwölftontheorie ebenso wie mit der Klangwelt Skrjabins und pflegte Kontakte zu Edgar Varèse und Carlos Chávez. Nach ihrer Übersiedlung nach New York studierte sie bei Charles Seeger, ihrem späteren Gatten. Mit ihm transkribierte sie und gab sie amerikanische Volkslieder heraus. Während eines durch ein Guggenheim Stipendium finanzierten Studienaufenthalts in Europa 1931 besuchte sie neben Bartók, Ravel, Hauer und Wellesz auch Alban Berg. Ihr schmales, doch vielfältiges Werk, das u. a. Kammermusik in verschiedensten Besetzungen umfasst, zeigt eine knappe formale Sprache, konsequente Durchführung der musikalischen Idee und differenzierte Rhythmik. Das rund elf Minuten dauernde Streichquartett zeigt dies in vier attacca aufeinander folgenden Sätzen. In jedem ist eine strukturelle Idee verwirklicht: Der Kopfsatz stellt jeweils ein einzelnes Instrument den drei anderen gegenüber, im Leggiero dominiert unaufhörliche Bewegung. Das Andante weist mit einer Ausnahme liegende Klänge auf und verzichtet auf ein Thema. Am kompliziertesten ist das mathematisch durchdachte Finale: Hier spielt die erste Geige Motive aus ein, zwei, drei usw. Tönen, während die drei übrigen Instrumente unisono im Oktavabstand solche von 20, 19, 18 etc. dagegen halten, bis man sich bei 20 bei einem Akkord trifft. Danach läuft das Gleiche wieder zurück – das Stück endet, wie es begonnen hatte: mit einem Ton der ersten Violine.
Georg Friedrich Haas wurde 1953 in Graz geboren und verbrachte seine Kindheit in Vorarlberg. Studiert hat er 1972-79 in seiner Geburtstadt, später in Wien bei Friedrich Cerha. Er hat sich intensiv mit Mikrotonalität und der Spektralmusik auseinandergesetzt, die nicht von festen Tonhöhen ausgeht, sondern auf den Obertönen der Klänge beruht. Viele seiner Kompositionen kreisen um die Themen Nacht, Fremde und Romantik. Haas hat mehrere bedeutende Preise erhalten: 1992 Sandoz-Preis, 1998 Ernst-Krenek-Preis, 2006 Grosser Österreichischer Staatspreis, 2013 Musikpreis Salzburg. 2011 war Haas Composer-in-residence beim Lucerne Festival. Er hat für ein weites Spektrum von Besetzungen und Gattungen komponiert. Mehreren Opern stehen Solokonzerte, Werke für Orchester und für kleinere Ensembles gegenüber. 1997 hat er mit der Komposition von Streichquartetten begonnen. Darunter befindet sich auch die im Dunkeln und vom Quartett auswendig zu spielende Nummer 3 – ein weiterer Beitrag von Haas zum Thema „Nacht“. Am 10. und 11. November 2014 wird das Arditti Quartet alle acht Haas-Quartette im Rahmen von WIEN MODERN mit Schwerpunkt G. F. Haas spielen, das 3. und 5. „late at night“ sogar zweimal und die Nr. 8 als Österreichische Erstaufführung. Dieses neuste Quartett wurde von der Kammermusik Basel 2011 im Rahmen von „Basler Komponisten im Focus“ für 2014 in Auftrag gegeben, nachdem Haas 2005 als Professor für Komposition an die Hochschule für Musik Basel berufen worden war. Inzwischen ist er im Herbst 2013 einem Ruf auf den wohl renommiertesten Kompositionslehrstuhl, den der Columbia University New York, gefolgt.