Ein Wunder der Entwicklung in dreizehn Jahren
Er ist gewaltig, der Sprung, den Schuberts Kunst und Ausdrucksfähigkeit in den gut dreizehn Jahren vom B-dur-Quartett D 34 zum grossen G-dur-Werk durchlaufen hat. Und es ist wichtig, sich dieser Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit wieder einmal aufmerksam hörend bewusst zu werden. Es ist nicht so häufig, dass man Schuberts frühe Streichquartette live zu hören bekommt – die beiden heute gespielten erklingen sogar erstmals in unseren Konzerten. Und natürlich verführt die Gegenüberstellung mit dem grandiosen Spätwerk zunächst dazu, leicht die Nase rümpfend die Frühwerke als nicht besonders bedeutend zu beurteilen. Das mag bis zu einem gewissen Grad so sein – aber vielleicht ist doch manches zu erkennen, was auf die spätere Entwicklung hindeutet. Vor allem aber darüber nachzudenken und über das «Wunder» zu staunen, wie sich ein junger Mann (und Schubert war auch bei seinem Tod noch immer relativ jung) in so kurzer Zeit vorwärts entwickeln konnte, tut sicher gut.
Schubert wurde, während er an seinem «dritten» Streichquartett arbeitete, am 31. Januar 1813 gerade 16 Jahre alt. (Neben den Quartetten Nr. 1 und 2 – D 18 und 32 – ist wohl auch die «Nr. 7» D 94 vor dem B-dur-Werk entstanden.) Vermutlich seit 1812 wurde er vom Hofkapellmeister Antonio Salieri, der ihn schon früher beobachtet hatte, unterrichtet, nachdem das Studium beim vorangehenden Lehrer abgeschlossen war. Der meinte über den jungen Musiker: «Der hat’s vom lieben Gott gelernt» – und konnte oder wollte ihm nichts mehr beibringen. Salieris Unterricht bestand in Harmonielehre, Kontrapunkt und – natürlich italienischer – Vokalkomposition, und er sah auch Schuberts Kompositionen regelmässig durch. Im Manuskript des B-dur-Quartetts gibt es Bemerkungen von Salieris Hand. Erstaunlich lang, vom 19. November 1812 bis zum 21. Februar 1813, arbeitete Schubert an diesem Werk. Und es scheint, dass das hübsche, mit überraschenden Momenten aufwartende Menuett in D-dur (das Trio in B) von Schubert noch später hinzugefügt wurde. Die übrigen Sätze, erstaunlicherweise auch das Andante, stehen in B-dur. Man fühlt sich im Kopfsatz und im Finale an Haydn, im Andante an Mozart erinnert. Einige weniger gelungene Passagen, etwa gewisse leicht penetrante Tonwiederholungen im Kopfsatz und im Finale, zeigen, dass Schubert noch am Suchen war. Später wird er solche Elemente viel zwingender gestalten. Das interessante Einfügen kontrapunktischer Elemente zeugt wohl vom Unterricht bei Salieri. Das Quartett wurde sicher vom Schubertschen Familien-Quartett erstmals gespielt – wann, ist allerdings nicht bekannt.
Das D-dur-Quartett D 74 komponierte Schubert ab 22. August und im September 1813, also ein halbes Jahr nach D 36. Auf die Titelseite der 1. Violine schrieb er «Trois Quatuors ... composés par François Schubert écolier de Msr de Salieri» – wozu dieser eigenhändig hinzufügte: «premier Maître de chapelle de la cour imp: et Royale de Vienne». Auf der folgenden Seite steht «Zur Nahmensfeyer meines Vaters. Franz, Sohn». Schuberts Vater hiess ebenfalls Franz. Das Quartett wurde somit ebenfalls unter Salieris Kontrolle komponiert und am 4. Oktober 1813 erstmals aufgeführt. Der Kopfsatz lässt das an und für sich heiter-melodiöse Hauptthema aus einem unbestimmt wirkenden Bass-Grund herauswachsen und überrascht danach mit einigen schroffen Einwürfen und Tremolo-Passagen, die Späteres ankündigen. Hat A. Werner-Jensen das D-dur-Quartett aus diesem Grunde «ein frühes Meisterwerk» genannt? Das G-dur-Andante im 6/8-Takt zeigt eine schöne Kantilene in wiegendem Siciliano-Rhythmus, was allerdings – von plötzlichen Generalpausen abgegrenzt – auch stark zurückgenommen wird. Es verklingt in zwei Pizzicato-Akkorden. Munter unbeschwert kommen Menuett und Trio daher – das Finale dagegen bringt über einer fortlaufenden Achtelfolge ein aus etwas kurzatmigen Motiven bestehendes, durchaus ernsthaft ausgearbeitetes Thema. Fanfarenartige Einwürfe sind vielleicht dem Anlass der Erstaufführung geschuldet, den Festlichkeiten zur «Nahmensfeyer».
Das G-dur-Quartett von 1826 ist ein absolutes Meisterwerk, mag es auch etwas an Beliebtheit hinter dem d-moll- und dem a-moll-Quartett zurückstehen. Ein solches Werk muss auch nicht beliebt sein – dafür ist es zu bedeutend und seine Qualitäten liegen tiefer. Es «fehlen» ihm eben ein beliebtes Liedthema und auch die vermeintlich für Schubert typische Biedermeierseligkeit («Am Brunnen vor dem Tore» o. ä.). In geradezu sinfonischen Zügen werden im Kopfsatz dramatische, in unruhigem Tremolo aufbrausende Blöcke mit lyrisch kantablen verzahnt. Dazu kommt generell das Provokative, welches in verschiedenen Details erkennbar wird, das aber immer Teil des gestalterischen Willens, nicht Unvermögen darstellt. Gut erkennbar sind sie in den genannten immer wieder auftretenden Tremoli, die mehr sind als nur eine Form klanglicher Gestaltung, enthalten sie doch ein grosses emotionales Potential. Sie haben zudem die Tendenz, die Tonalität zu verschleiern – kein Wunder, dass sie in der Spätromantik so beliebt sind. Dass sich Schubert im Kopfsatz (etwa zu Beginn), aber auch im Finale nicht für Dur oder Moll entscheiden kann bzw. will, hat die Hörer ebenfalls irritiert, obwohl es sich dabei um ein typisches Stilmittel handelt. Gerade diese angebliche Unentschiedenheit, die sich in den thematisch nicht immer leicht fassbaren Tremoli und im Verunklaren der Tonart äussert, trägt dazu bei, dass das Werk formal nicht so klar abläuft wie ein Haydn-Quartett. Dadurch verliert man irgendwie das Zeitgefühl, und dieser Verlust führt auch zu den von Schumann in der grossen C-dur-Sinfonie festgestellten «himmlischen Längen». Schubert hat – wie in dieser Sinfonie, im Streichquintett und in den letzten Klaviersonaten – im G-dur-Quartett, das ausdrücklich keine Sinfonie sein will, mit modernsten und ganz eigenen Mitteln nicht nur zur grossen Form gefunden, sondern in den Ein- und Ausbrüchen auch Grenzen erreicht, an die er genauso in der Lyrik der «Winterreise» oder in Heines Atlas («unendlich glücklich oder unendlich elend») gestossen ist. Zusammen mit Beethovens op. 131, mit dem es etwa zeitgleich in nur elf Tagen entstanden ist, bildet es bei aller Verschiedenheit einen der höchsten Gipfel der Quartettkunst, oder – wie ein Rezensent 1853, als das Quartett kurz zuvor erstmals vollständig aufgeführt worden und im Druck erschienen war, festhielt – ein «letztes», so wie Wagner Beethovens Neunte «die letzte» genannt hatte.