Erstaunlich, dass Mendelssohns op. 44/3 erst zum zweiten Mal in unseren Konzerten erklingt (erstmals 1995 durch das Guarneri SQ). Die drei Quartette op. 44, unter denen die Nummer 3 als zweites komponiert wurde, scheinen generell weniger beliebt zu sein als die jugendlich frischen Opera 13 und 12. Der Rückgriff auf geradezu beethovensche Thematik und ein klassisches Formgerüst haben dem Es-dur-Quartett sogar den Vorwurf des Klassizismus eingetragen, wie man überhaupt das ganze op. 44 als konventionell beurteilt hat. Doch Mendelssohn selber war der Ansicht, op. 44/3 sei «einige hundertmal besser» als die früheren (zu denen ein Jugendwerk in Es-dur hinzuzuzählen ist), und man werde «einen rechten Fortschritt darin bemerken». Vielleicht liegt gerade in der von Mendelssohn hier erreichten kompositorischen Meisterschaft der Ansatz zur Kritik: Man entdeckt die auch hier vorhandene Originalität wegen der eleganten Leichtigkeit und kunstvollen Verarbeitung wohl zu wenig. Doch zeigen gerade die beiden mittleren Sätze nicht nur die Eleganz und Kunst Mendelssohns, der zur Zeit der Entstehung auf dem Höhepunkt seiner Komponistenlaufbahn stand, sondern auch seinen Witz (im Scherzo) und seine Intensität (im Adagio). Im Finale greift der Komponist zwar ein Motiv aus diesem Adagio auf, setzt hier aber vor allem auf virtuose Spielfreude. Klassizismus ist also nur die eine Seite dieses Werkes. Wie die beiden anderen Quartette des Opus widmete Mendelssohn das Quartett bei seinem Erscheinen 1839 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig dem schwedischen Kronprinzen. Drei Jahre später sollte Schumann – nicht zuletzt unter dem Eindruck der drei Quartette op. 44 – seinem Freund Mendelssohn seine eigenen drei Streichquartette op. 41 widmen.
Thomas Adès, auch als Pianist und Dirigent tätig, ist einer der erfolgreichsten britischen Komponisten der Gegenwart. 1997 bekam er die Professur an der Royal Academy of Music, welche einst Britten innehatte. Seit 1999 ist er Musikchef des Britten-Pears-Festivals von Aldeburgh. Zwar finden seine Werke nicht immer die Zustimmung der Kritiker und Avantgardisten, sind sie doch in einer – für die englische Tradition typischen – gut anhörbaren modernen Tonsprache geschrieben. Dies erleichtert dem Zuhörer den Zugang, und der Erfolg gibt Adès Recht. Neben durchaus ernsthaften, ja tiefgründigen Kompositionen gibt Adès oft dem (britischen) Humor Ausdruck. Nach dem 2007 bei uns aufgeführten frühen Streichquartett Arcadiana op. 12 von 1994 wird heute, nur drei Wochen nach der Uraufführung am 12. März 2011 in der Carnegie Hall in New York durch das Emerson Quartett, sein neustes Werk für diese Besetzung dargeboten. Das vierteilige Quartet, ein Auftragswerk der Carnegie Hall, nimmt – in alter Abfolge am Vorabend beginnend (man denke an unseren Brauch des Heiligabend etc.) – den Tagesablauf zum Motto. Ausgehend von der gespenstischen Ruhe beim Einbruch der Nacht führt es über die strahlende Heiterkeit des beginnenden Tages und die pulsierende Energie des Mittags hin zum Ende in einem unbekümmert entzückenden Marsch, der zuletzt nur widerwillig schwindend verklingt.
Warum hat Schuberts grösstes Quartett nicht die Beliebtheit der beiden anderen späten Quartette erreicht? Ist es das Fehlen des populären Beinamens? Gibt es kein beliebtes Thema, das man auf Anhieb wiedererkennt? Ist es die Länge? Oder ist es die Zerrissenheit, die man so lange beim «Schwammerl» Schubert nicht hat in ihrer Bedeutung wahrnehmen wollen, weil sie dem Bild vom «eigentlich schubertschen» Schubert, dem Liedersänger und Melodienerfinder widersprach? In nur elf Tagen, fast gleichzeitig mit Beethovens Abschluss des op. 131 (im letzten Konzert zu hören) entstanden und jenem gleichrangig, stellt es nicht nur einen Gipfel der Quartettkunst dar, sondern gehört zum Schwierigsten – in der Ausführung wie im Erfassen. Kein populäres Liedthema, keine behäbige Biedermeierseligkeit täuscht über die Ansprüche hinweg. In geradezu sinfonischen Zügen werden im Kopfsatz dramatische, in unruhigem Tremolo aufbrausende Blöcke mit lyrisch kantablen verzahnt, als eine Art «einander ablösender Varianten. Variierte Reihung kennzeichnet auch den zweiten Satz, dessen ausgedehnt singende Cello-Melodien wohl Beruhigung, gar Frieden auszustrahlen vermöchten, wäre ihnen nicht der Affekt der Ruhelosigkeit in den Oberstimmenfiguren beigegeben» (Arnold Feil). Dazu kommt generell das Provokative, welches in verschiedenen Details erkennbar wird, das aber immer Teil des gestalterischen Willens, nicht Unvermögen darstellt. Ein leicht erkennbares sind die genannten immer wieder auftretenden Tremoli. Sie sind mehr als nur eine Form klanglicher Gestaltung, enthalten sie doch ein wichtiges emotionales Potential. Sie haben zudem die Tendenz, die Tonalität zu verschleiern – kein Wunder, dass sie in der Spätromantik so beliebt sind. Dass sich Schubert im Kopfsatz, aber auch im Finale nicht für Dur oder Moll entscheiden kann bzw. will, hat die Hörer ebenfalls irritiert, obwohl es sich dabei um ein typisches Stilmittel Schuberts handelt. Gerade diese angebliche Unentschiedenheit, die sich in den thematisch nicht immer leicht fassbaren Tremoli und im Verunklaren der Tonart äussert, trägt dazu bei, dass das Werk eben nicht so formal klar abläuft wie ein Haydn-Quartett. Dadurch verliert man irgendwie das Zeitgefühl, und dieser Verlust führt auch zu den von Schumann in der grossen C-dur-Sinfonie festgestellten «himmlischen Längen». Schubert hat – wie in dieser Sinfonie, im Streichquintett und in den letzten Klaviersonaten – im G-dur-Quartett, das ausdrücklich keine Sinfonie sein will, mit modernsten und ganz eigenen Mitteln nicht nur zur grossen Form gefunden, sondern in den Ein- und Ausbrüchen auch Grenzen erreicht, an die er ebenso in der Lyrik der Winterreise oder in Heines Atlas («unendlich glücklich oder unendlich elend») gestossen ist.