Nachdem in unseren Konzerten bereits die früheren Streichquartett-Kompositionen György Kurtágs zum Teil mehrfach zur Aufführung gelangt sind, folgt heute sein neustes Werk für diese Besetzung. Wie bei den anderen Quartettkompositionen und wie meist bei Kurtág besteht es aus einer Reihe von kurzen Sätzen. Hier wird schon mit dem schubertschen Titel «Moments» auf die Kürze Bezug genommen. Auch die Anzahl von sechs Stücken verweist auf Schuberts Klavierstücke D 780, ohne dass im Musikalischen wirklich darauf Bezug genommen würde. Es sind Andeutungen, Gedankensprünge, wie dies auch bei den Titeln der sechs Stücke der Fall ist. Vieles können wir nicht verstehen, manches wird rasch klar. Rätsel gibt der Titel des zweiten Stücks auf, das mit dem Wechsel von warmen und fahlen Tönen spielt. Einfacher zu verstehen ist das Capriccio mit seinem über alle vier Pulte hinweg springenden Dialog. Dass auch hier ein in memoriam vorkommt, verwundert bei Kurtág nicht. Es gilt dem 1999 verstorbenen ungarischen Pianisten György Sebök, der hierzulande mit seinen Meisterkursen ab 1974 als Begründer des Festivals Musikdorf Ernen bekannt geworden ist, und dass dabei die Tonfolge B-A-C-H zitiert wird, überrascht ebenso wenig. ...rappel des oiseaux... erinnert (mehr als an Rameau) natürlich an Messiaen. Das Stück ist der Bratscherin Tabea Zimmermann gewidmet. Der letzte Titel evoziert Beethoven, ist aber Hommage à Janácek; es beruht auf einem vierhändigen Klavierstück aus Kurtágs berühmten Játétok (Spiele). Wie häufig bei Kurtág leben die Stücke, wie er es seinem Vorbild Webern abgelauscht hat, neben den Klängen auch von der Stille, den Aussparungen und von der bis ins letzte Detail präzisen Ausarbeitung. Das Werk entstand als Auftrag des Concours International de Quatuor à Cordes de Bordeaux 2005, wo es Pflichtstück war.
Elliott Carter, der als einer der grössten modernen Komponisten der USA gelten darf, wird, fast auf den Tag Altersgenosse von Olivier Messiaen, am 11. Dezember 2008 seinen 100. Geburtstag feiern. Er hat nicht durch spektakuläre, die Publizität suchende Auftritte auf sich aufmerksam gemacht, sondern durch seine gediegene, sorgfältige, aber nichtsdestoweniger lebendige Musiksprache. Er will – bei aller Radikalität – nicht aufbegehren, sondern kommunizieren. Er sucht die «fokussierte Freiheit» des Diskurses, nicht die Konfrontation. Mit Basel ist Carter durch enge Beziehungen zu Heinz Holliger verbunden. Nach den Streichquartetten Nr. 1 und 5 kommt heute die Nummer 4 von 1986 zum Zuge, ein Werk, das in der Satzfolge auf klassische Vorbilder zu verweisen scheint. Jedes der Instrumente erhält ein bestimmtes Repertoire an Intervallen und Ausdrucksweisen zugeteilt. Diese spielen sie nicht gegeneinander aus, sondern «tragen alle in ihrer eigenen Art zu einer kontinuierlichen und verfeinerten Diskussion bei» (D. Harvey im Booklet zur Aufnahme mit dem Arditti Quartet). So ist etwa das Pizzicato dem Cello vorbehalten. Die raffinierte und differenzierte Textur erreicht in der zweiten Hälfte des etwa 20 Minuten dauernden Werks durch das klangliche Potential der Intervalle eine besondere Bedeutung.
Ruth Crawford, sieben Jahre älter als Carter, aber bereits 1953 früh gestorben, war in den 20er und 30er Jahren eine wichtige Vertreterin der amerikanischen Avantgarde. Sie befasste sich mit SchönBergs Zwölftontheorie ebenso wie mit der Klangwelt Skrjabins und pflegte Kontakte zu Edgar Varèse und Carlos Chávez. Nach ihrer Übersiedlung nach New York studierte sie bei Charles Seeger, ihrem späteren Gatten. Mit ihm transkribierte sie und gab sie amerikanische Volkslieder heraus. Während eines einjährigen, durch ein Guggenheim Stipendium finanzierten Studienaufenthalts in Europa 1931 besuchte sie neben Bartók, Ravel, Hauer und Wellesz auch Alban Berg. Ihr schmales, aber vielfältiges Werk, das u.a. Kammermusik in verschiedensten Besetzungen umfasst, zeigt eine knappe formale Sprache, konsequente Durchführung der musikalischen Idee und differenzierte Rhythmik. Das rund elf Minuten dauernde Streichquartett zeigt diese Qualitäten in vier wie bei Carter attacca aufeinander folgenden Sätzen. In jedem Satz ist eine strukturelle Idee verwirklicht: Der Kopfsatz stellt jeweils ein einzelnes Instrument den drei anderen gegenüber, im Leggiero dominiert unaufhörliche Bewegung. Das Andante weist mit einer Ausnahme liegende Klänge auf und verzichtet auf ein Thema. Am kompliziertesten ist das mathematisch durchdachte Finale: Hier spielt die erste Geige Motive aus ein, zwei, drei usw. Tönen, während die drei übrigen Instrumente unisono im Oktavabstand solche von 20, 19, 18 etc. dagegen halten, bis man sich bei 20 bei einem Akkord trifft. Danach läuft das Gleiche wieder zurück – das Stück endet wie es begonnen hatte: mit einem Ton der ersten Violine.
Alban Berg hat seine Lyrische Suite nach Alexander Zemlinskys Lyrischer Sinfonie benannt, sie dem älteren Freund und Mentor gewidmet und mit einem Zitat im Adagio appassionato die Reverenz bekräftigt. Dass hinter Widmung und Zitat mehr steckt, erahnt man, seit man weiss, dass Bergs Quartett der Ausdruck einer tiefen, doch unerfüllten Liebe zu Franz Werfels Schwester Hanna Fuchs-Robettin ist. Ja, man kann sich fragen, ob nicht nachträgliche Tarnung vorliegt. Die Lyrische Sinfonie ist eine Folge von sieben Liebesgesängen. Berg zitiert die schönste Phrase des Baritons, den Refrain «Du bist mein Eigen, mein Eigen» aus dem 3. Satz. Sieht man das Textumfeld näher an, so fällt folgende Passage der 3. Strophe auf: «Ich hab dich gefangen und dich eingesponnen, Geliebte, in das Netz meiner Musik. Du bist mein Eigen, mein Eigen, du, die in meinen unsterblichen Träumen wohnt.» Genau das hat Berg getan, wenn er die Initialen A-B und H-F «immer wieder in die Musik hineingeheimnisst». Die Zahlen 10 und 23, «unsere Zahlen», wie Berg für Hanna schreibt, bestimmen das Kompositionsschema von Sätzen und Satzteilen. «Ich habe dies und vieles andere Beziehungsvolle für Dich in diese Partitur hineingeschrieben», so ein Tristanzitat und in der Melodiestimme des Largo desolato eingewoben ein Zitat aus Baudelaires Gedicht De profundis clamavi: «Zu Dir, Du einzig teure, dringt mein Schrei aus tiefster Schlucht, darin mein Herz gefallen.» All dies geschieht unter dem Deckmantel der Zwölftontechnik und der scheinbar absoluten Musik eines Streichquartetts. In Kenntnis des geheimen Programms – Bergs Gattin Helene hat den Code nie durchschaut – versteht man auch die eigenartigen Satzbezeichnungen vom gioviale (ursprünglich gioioso) über das delirando der Krise des Liebesdramas bis hin zum endgültigen Verzicht im desolato besser. Aber die durchaus als absolute Musik fassbare Suite verliert dadurch ebensowenig an Aussagekraft und Schönheit wie Janáčeks fast gleichzeitiges 2. Streichquartett (Konzert Nr. 8) mit seiner ähnlichen «Thematik».
rs