Wozu soll man so häufig gespielte Werke wie Beethovens Opus 59 zyklisch darbieten? Einmal abgesehen davon, dass op. 59/1 in unseren Konzerten seit mehr als 15 Jahren nicht mehr erklungen ist, gilt es hier ganz besonders, Beethovens Konzeption des Opus 59 nachzuspüren. Dieses ist offensichtlich als Zyklus konzipiert, und zwar in anderer Weise als dies bei den sechs Quartetten des op. 18 der Fall war. Erst in den späten Quartetten, und dort vor allem bei den Opera 130, 131 und 132 , welche durch ein gemeinsames Motto miteinander verbunden sind, wird Beethoven eine neue Form der werkübergreifenden Gesamtkonzeption verwenden. Worin liegt dieses Zyklische, wo doch die drei Werke durchaus verschiedene Charaktere aufweisen? Ein Aspekt sind sicher die sinfonischen Züge, welche den damaligen Musikern und Zuhörern zu schaffen machten. Was Beethoven im Bereich der Sinfonie mit der etwas zuvor entstandenen Eroica erreicht hatte, überträgt er jetzt auf das Streichquartett. Bereits die Dauer der Werke, zumindest der Nummern 1 und 2, überstieg die Gewohnheit und wohl auch das Fassungsvermögen der meisten Zeitgenossen. Auch die neue, mächtige Klanglichkeit mag bei Kammermusik überrascht haben. Ob Graf Andrej Kyrillowitsch Rasumoswki (1752–1836), der russische Gesandte am Wiener Hof und seit 1796 Förderer Beethovens, diese Entwicklung vorausgesehen hat, als er die Quartette in Auftrag gab, ist nicht bekannt. Hinzu treten, wohl angeregt durch die Qualitäten des Schuppanzigh-Quartetts, weitere Elemente wie spieltechnische Ansprüche, die Harmonik und die Rhythmik. Uns Heutige mag erheitern, wie ein Musiker von so gehobenen Fähigkeiten, damals immerhin der wohl bedeutendste Cellist, Bernhard Romberg (1767–1841) 1812 – so berichtet die Anekdote – die Noten des F-dur-Quartetts zu Boden geworfen habe und mit den Füssen darauf herumgetrampelt sei. Die drei Quartette erfüllen, jedes in eigener Weise, sowohl die Gattungsansprüche der Vergangenheit als auch, insbesondere in der Gestaltung von Themen in Form weit gespannter Melodien, neue Anforderungen. Äusserlich bewahren sie die klassische Viersätzigkeit, im Innern der Sätze allerdings brodelt es ganz ungewöhnlich.
Formal ist das erste der Rasumowski-Quartette eine Art „Variationenfolge“ über die Sonatensatzform. Der erste Satz (ursprünglich war eine Wiederholung von Durchführung und Reprise, nicht aber der Exposition geplant) verzichtet auf Wiederholungen und breitet stattdessen neben vielen thematischen Einfällen grosse, ungewohnte Steigerungen aus. Das fünfteilige scherzohafte Allegretto verbindet das Scherzoschema mit dem Sonatensatz. Als wollte Beethoven die Ungewöhnlichkeit auch dieses Satzes demonstrieren, gab er ihm nicht die Tonart F-dur, sondern B-dur, die eigentlich einem langsamen Satz zukäme. Dieser wiederum steht in f-moll und bildet erneut einen Sonatensatz. Er steht als Adagio molto e mesto in grösstem Gegensatz zum vorangehenden Scherzo und kommt mit geradezu barocken Trauerfloskeln daher. Die Tiefe dieses Satzes kann mit dem Trauermarsch der Eroica verglichen werden. Beethoven hat in die beiden ersten Quartette bekanntlich russische Melodien eingebaut, wohl zu Ehren des Auftraggebers. Was er aber daraus macht, ist erstaunlich. Aus einem volksliedhaften Klagelied der russischen Sammlung von Iwan Pratsch (1790 erstmals in St. Petersburg erschienen – Beethoven besass eine Ausgabe) wird ein Rondothema mit geradezu tänzerischer Energie – doch handelt es sich gar nicht um ein echtes Rondo, sondern wieder um einen Sonatensatz. Beethoven arbeitet mit Überraschungseffekten, indem er mit Konventionen bricht, daraus aber eine vollkommen überzeugende Neugestaltung bildet. Ein Höhepunkt des Quartetts ist sicher der Übergang vom langsamen zum Schluss-Satz: Aus einem beinahe banalen Überleitungstriller der Violinkadenz wächst das Finalthema heraus.
Im Gegensatz zum F-dur-Quartett bleibt das zweite der Rasumowsky-Quartette stärker der Tradition verpflichtet. Es wirkt wie die Antithese zum kühnen ersten – das dritte in C-dur wird dann die Synthese bilden. Auf den düsteren Kopfsatz, einen Vorgriff auf op. 95 in f-moll, folgt ein zunächst lichter Adagio-Choral. Carl Czerny berichtet, er sei Beethoven beim Anblick des Sternenhimmels eingefallen. Durch Beifügen von Gegenstimmen und rhythmischen Kontrapunkten löst sich der Choral-Charakter aber immer mehr auf. Im fünfteiligen rhythmisch pointierten Scherzo fällt im Trio das aus der Krönungsszene als Zarenhymne in Mussorgskys Boris Godunow bekannte Thème russe ins Ohr. Auch hier verwendet Beethoven das Thema nicht als feierlichen Kirchengesang, sondern gibt ihm einen tänzerischen Charakter, der letztlich alles Russische verliert. Zudem verarbeitet er es, anders als das Thème russe im Finale des F-dur-Quartetts, fugenhaft und kontrapunktisch. Wieder wird aus der Volksliedmelodie etwas Neues herausgeholt. Das Finale weist, nicht nur mit dem überraschenden Beginn in C-dur (in einem e-moll-Werk!), auf das dritte Quartett voraus.
Mit Beethovens Opus 59 begann das moderne Streichquartett. Hatten das erste und wohl auch das zweite damals schockierend gewirkt, so erscheint das dritte weniger gewagt. Es ist das kürzeste und konzentrierteste der drei Schwesterwerke und bildet gleichsam die Synthese der beiden vorangegangenen Werke. Gleichwohl zeigt es die modernen Errungenschaften der Quartettkomposition. Mag die Wiederaufnahme einer langsamen Einleitung zunächst als Rückgriff auf die Tradition erscheinen, so bildet (gemäss A. Werner-Jensen) die Art, wie dies hier geschieht, mehr einen Traditionsbruch als eine Fortführung gewohnter Formen. Ebenso überraschend ist das virtuose, attacca an das Menuett anschliessende Finale, eine Verbindung von Sonatensatz und Fuge. Gerade diese nicht regelkonforme Fuge hat Beethoven nicht wenig Kritik eingetragen, beweist aber gleichzeitig die Kühnheit und Modernität dieses heute so klassisch wirkenden Werkes. Mit der „Grossen Fuge“ am Ende von op. 130 wird Beethoven auf noch viel gewagtere Weise im Spätwerk auf eine solche „unregelmässige“ Fuge (tantôt libre, tantôt recherchée) zurückgreifen. Wie es scheint, sind die drei Werke des Opus 59 in der Reihenfolge der Nummerierung entstanden, das C-dur-Quartett ist also tatsächlich das Abschlussstück. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die zyklische Gestaltung dieser Werkgruppe.
rs