Noch einmal Bach - in diesem Bachjahr, noch einmal, und zwar in höchster Konzentration: drei Werke als Musik pur, auf ein einziges Instrument reduziert. Und zugleich - trotz reicher und bedeutender Violinkomponisten wie Strungck oder Biber - die Summe des kammermusikalischen Violinspiels in der Barockmusik. So kann man bei diesem Abend gegen Ende des Bach-Jahres tatsächlich von Ernte oder Summe reden.
Im Gegensatz zu den in der letzten Saison erklungenen Cellosuiten kann man die Violinwerke recht eindeutig in Bachs Köthener Zeit datieren. Bach selbst hat den Abschluss der Komposition auf dem Titelblatt des prächtigen Autographs mit 1720 vermerkt; man wird davon ausgehen dürfen, dass sie zwischen 1717 und 1720 entstanden sind. Der Zweck der Kompositionen ist allerdings auch hier nicht klar. Ist die Anregung oder sogar der Zweck der Komposition darauf zurückzuführen, dass Bachs Köthener Herr, Fürst Leopold, selber Geige spielte? Oder dienten sie, wie immer wieder vermutet, pädagogischen oder Studienzwecken, vielleicht für Bach selbst? Die Sei solo a violino senza basso accompagnato sind im Gegensatz zu den sechs gleich gestalteten Cellosuiten verschieden aufgebaut. Die Sonaten sind viersätzig und weisen «abstrakte» Satzformen, die Partiten (= Suiten) stilisierte Tanzsätze auf. Die Sonaten greifen auf die von Corelli geprägte Kirchensonate mit der Satzfolge «langsam-schnell-langsam-schnell» zurück. An zweiter Stelle steht jeweils eine dreistimmige Fuge, die punkto Dauer sowie in spieltechnischer und musikalischer Hinsicht zum Hauptstück des Werks wird. Die Einleitungssätze, deren Melodiebögen von Figurenwerk umspielt sein können, haben Präludiumscharakter.
Dies wird in der 1. Sonate besonders deutlich: Akkorde werden von Zweiunddreissigstel- und Vierundsechzigstel-Figuren umrankt: ein echt präludierendes Auf und Ab. Die Fuge beruht auf einem eintaktigen Thema mit vierfach wiederholtem «d» und läuft trotz gelegentlicher Themenvariierung mit kurzen Zwischenspielen in strenger Form ab. Auch das Siciliano mit seiner schlichten Melodie ist polyphon dreistimmig gesetzt. Es ist erstaunlich, wie es Bach gelingt, trotz technischen Problemen dauernd den Eindruck von Dreistimmigkeit zu erwecken. Das toccata-ähnliche Presto ist mit seinen Akkordbrechungen ein hochvirtuoses Stück.
Das Präludium der 3. Sonate ist ganz aus einem Keimmotiv eines punktierten Achtels mit Sechzehntel gebildet. Es leitet über zur «grossen», 354 Takte langen Fuge, der längsten und grossartigsten in den Violinwerken. Ihr Thema hat Bach aus dem Pfingsthymnus «Komm, heiliger Geist, Herre Gott» abgeleitet und lässt es in fünf Durchführungen im Original, in Moll und in der Umkehrung ablaufen. Das melodische Largo wirkt als sanfter Kontrast, bevor im Allegro perpetuum-mobile-haft die Virtuosität zum Zuge kommt.
Die Partiten gehen auf die Sonata da camera zurück und nehmen die beliebten französischen Tanzsätze Allemande, Courante, Sarabande und Gigue auf. Unter ihnen ragt die zweite dank der einzigartigen Chaconne, welche die vier Tanzssätze ergänzt und auf die sie hinzielen, hervor. Kein Satz in den Violinwerken kann es an Dauer und Bedeutung mit ihr aufnehmen. Das viertaktige Bassthema kommt 64mal vor; über ihm laufen die Variationen ab. 131 Takte stehen in Moll, dann folgen 76 in Dur und weitere 49 in Moll. Diese Chaconne holte im 19. Jahrhundert Bachs Violinwerke aus der Vergessenheit hervor: Schumann, Brahms und Busoni haben sie bearbeitet und dadurch populär gemacht.
rs