Konzerte Saison 1988-1989

  • 8.11.1988
  • 20:15
  • 63.Saison
  • Zyklus A
Stadtcasino, Festsaal

Artis Quartett (Wien)

Das Artis Quartett wurde 1980 in Wien gegründet. Nach Studien in Wien hat es sich beim LaSalle String Quartet in den USA weitergebildet. Es ist Preisträger der Wettbewerbe von Evian, Cambridge und Yellow Springs. Nach der Rückkehr aus den USA begann 1985 eine steile internationale Karriere. Seit 1988 führt das AQ einen eigenen Konzertzyklus im Wiener Musikverein. Die Festspielauftritten und Schallplatteneinspielungen können hier nicht ausführlich gewürdigt werden. Zyklische Aufführungen der Quartette Mozarts, Mendelssohns und Schuberts (diese 1997 in Wien, Amsterdam und Rotterdam) gehören ebenso zum Programm wie die Pflege der Quartettkunst des 20. Jahrhunderts. Hier seien die Einspielungen von Werken von Webern, Gielen, Zemlinsky, Schönberg, Weigl, Berg erwähnt. Die Gesamteinspielung von Zemlinsky ist im Gange. Mit Zemlinskys 2. Quartett gastierte das AQ im November 1988 erstmals bei uns; beim zweiten Auftritt im Rahmen des Schwerpunktprogramms Wien stand am 16. Oktober 1990 das 3. Quartett Weigls auf dem Programm. Alle vier Musiker spielen wertvolle Instrumente: der Primarius eine Domenico Montagnana (1727), der 2. Geiger eine Andrea Guarneri von 1690, der Bratscher eine G. B. Guadagnini von 1784 und der Cellist ein Cello von Andrea Amati (1573).
Ob die Auseinandersetzung mit der Barockmusik und speziell mit Bach ein Auslöser für die kühnen, den damaligen Hörern so unvertrauten Harmonien im einleitenden Adagio des darum so betitelten Dissonanzen-Quartetts waren? Sicher ist nur, dass ihr oft unvermitteltes Auftreten, das sich nicht unbedingt aus einer Struktur wie in einer bachschen Fuge erklären liess, nicht nur Korrekturversuche ausgelöst hat, sondern irritierte Käufer veranlasste, die Noten an den Verleger Artaria zurückzuschicken mit der Bemerkung, sie seien voller Fehler des Stechers. «Der in der Einleitung angeschlagene chromatische Grundton wird zum Kennzeichen der ganzen Komposition, scheint fast an die Stelle kontrapunktischer Kunstfertigkeit zu treten, die wir aus den vorangehenden Quartetten kennen» (A. Werner-Jensen).

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Ein italienischer Käufer soll dem Verleger Artaria die Noten von Mozarts Haydn-Quartetten mit der Bemerkung zurückgeschickt haben, sie seien voller Fehler des Stechers. Und der Komponist Giuseppe Sarti kritisierte sie, weil Mozart wie ein Klavierspieler schreibe, der zwischen Dis und Es nicht unterscheiden könne. Die Kritik zielte gewiss auf die 22 Takte der Einleitung zum C-dur-Quartett. Obwohl es lange vor Mozart kühnere harmonische Reibungen gegeben hatte, erregte ihr Auftauchen in einem Streichquartett und der Umstand, dass die Dissonanzen so gar nicht zur Klarheit der folgenden Sätze passen wollten, Unmut. Aber vielleicht war es gerade das, was Mozart suchte: So wird einem das C-dur erst wirklich bewusst. Mozart trug das C-dur-Quartett am 15. Januar 1785 in sein Werkverzeichnis ein. Bereits am nächsten Tag führte er es mit den fünf andern dem Widmungsträger und Freunden vor mit Wiederholung am 12. Februar - wieder im Beisein Haydns. Dieser hat nach der ersten Aufführung bekanntlich von Mozart gesagt, er habe „die grösste Compositionswissenschaft“. Dies hätte er kaum von einem Komponisten gesagt, der Dis und Es nicht unterscheiden kann.

Die «Fünf Sätze» Weberns dürften für den Komponisten in mancher Hinsicht den Durchbruch gebracht haben: Befreiung von der festen Tonalität – das Wort Atonalität schätzte Webern nicht – ebenso wie von den tradierten Formen und Bekenntnis zur Kürze. Die für Webern charakteristische Kürze hängt eng mit dem Verlassen der klassischen Satzformen zusammen. Sonatenform mit Durchführung und Reprise oder Rondoform mit mehrfacher Wiederkehr des Themas waren keine unumgehbaren Zwänge mehr, und diese Freiheit der beinahe abstrakten selbst gewählten Form machte aussagekräftige Stücke von der Dauer einer halben bis zwei Minuten möglich. «Webern kann in zwei Minuten mehr sagen als die meisten anderen Komponisten in zehn.» Die Aussage von Humphrey Searle (englischer Zwölftonkomponist und Webern-Schüler, 1915-1982) können wir zu «in wenigen Sekunden» ändern: Der dritte der «Fünf Sätze» dauert gegen 40 Sekunden. Und doch sind die «Fünf Sätze» mit rund zehn Minuten noch relativ lang; die «Sechs Bagatellen» op. 9 (1911/13) werden noch vier dauern. Der erste Satz des op. 5 ist eigentlich noch ein Sonatensatz. Kürze allein ist nicht entscheidend. Wichtig ist neben der Dichte, die durchaus auch Luft lässt, die Vielfalt der Klänge, welche durch extreme Differenzierung der Spielweise erreicht wird. Der Kritiker Paul Stefan hat die Kompositionsweise umschrieben mit «Nicht ein Ton zuviel, von allem nur die letzte Frucht, das innerste Wissen, die kleinste Bewegung.» Im op. 5 ist Webern auf dem Weg dahin.
«Ich habe immer fest geglaubt, dass er ein großer Komponist war, und ich glaube noch immer fest daran. Möglicherweise wird seine Zeit früher kommen, als man denkt.» Diese Zeilen schrieb Arnold Schönberg über seinen Kompositionslehrer Alexander Zemlinsky im Jahre 1949 – sieben Jahre, nachdem Zemlinsky einsam und verarmt im amerikanischen Exil verstorben war. Zu Lebzeiten nahm man Zemlinsky eher als Dirigenten und Pädagogen wahr. Neben Schönberg gehörte auch der frühbegabte Erich Wolfgang Korngold zu seinen Schülern. Ausserdem Alma Schindler, in die sich Zemlinsky verliebte und die ihm immer wieder Avancen machte, bis sie jedoch einen anderen heiratete: Gustav Mahler. Nach einer Station in Prag kam Zemlinsky als Kapellmeister der Krolloper und Hochschullehrer nach Berlin, von wo aus ihn die Nationalsozialisten vertrieben. Der Versuch, noch einmal in seiner Heimstadt Wien Fuss zu fassen, scheiterte. 1938, vier Jahre vor seinem Tod, ging Zemlinsky in die USA, und erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu der Entdeckung, die Schönberg prophezeit hatte. Man erkannte in dem Komponisten endlich einen wichtigen Vertreter des Übergangs von der Spätromantik zur Moderne.

Die Wiederentdeckung seiner Werke verzögerte sich auch deshalb, weil Zemlinsky als Komponist selbst dem radikalen Weg der Atonalität, den sein Schüler Schönberg beschritt und den die Moderne nach dem Krieg weiterging, nicht hatte folgen wollen. Und gerade das zweite Streichquartett steht für die Grenzen, die sich Zemlinsky in Bezug auf die Grundlagen der Tonalität zog. Das Stück, das als Hauptwerk seines Kammermusikschaffens gilt, ist ein vielschichtiges Zeugnis für die Auseinandersetzung mit seinem Schwager (Schönberg hatte 1901 Zemlinskys Schwester Mathilde geheiratet) – und das auch sehr persönlich. Im Jahre 1913, als Zemlinsky mit dem Quartett begann, kam es mit dem Schwager zu einem Streit aus nicht näher bekannten Gründen, in dessen Folge Schönberg sogar einen Kontaktabbruch vorschlug. In der aus einem einzigen grossen Satz bestehenden, geradezu monumentalen Komposition knüpfte Zemlinsky strukturell an Schönbergs erstes Quartett von 1905 an. Als er es zwei Jahre später vollendet hatte, widmete er es dem Schwager – vielleicht als Entschuldigung.

Wolfgang Amadeus Mozart 1756-1791

Streichquartett Nr. 19, C-dur, KV 465 «Dissonanzen-Quartett» (1785)
Adagio – Allegro
Andante cantabile
Menuetto: Allegro – Trio
(Molto) Allegro

Anton Webern 1883-1945

5 Sätze für Streichquartett, op. 5 (1909)
Heftig bewegt. Tempo I – Etwas ruhiger, Tempo II
Sehr langsam
Sehr bewegt
Sehr langsam
In zarter Bewegung

Alexander von Zemlinsky 1871-1942

Streichquartett Nr. 2, op. 15 (1910/15)
Sehr mässig–Heftig und leidenschaftlich–Moderato–Andante mosso–Allegretto–
Adagio –
Schnell – Andante – mit energischer Entschlossenheit –
Allegro molto – Langsam – Andante