Konzerte Saison 1978-1979

  • 17.10.1978
  • 20:15
  • 53.Saison
  • Zyklus A
Stadtcasino, Festsaal

Janácek-Quartett (Brünn)

Wenn wir Beethovens Verhalten und seine Äusserung gegenüber Karl Amenda, das F-Dur Quartett in der Urfassung nicht weiterzugeben, richtig interpretieren, dürfen wir die Quartette Nr. 4 bis 6 als den entscheidenden Schritt vom Quartett des späten 18. zu dem des frühen 19. Jahrhunderts ansehen. Beethoven hat die ersten drei Quartette im Jahre 1800 revidiert. Dies zeigt, dass er selbst von der ersten zur zweiten Dreiergruppe einen qualitativen Fortschritt sah, der ihn nötigte, die ersten Werke dem neuen Standard anzupassen. So sind auch diese drei Quartette, zumindest in einzelnen Sätzen (vor allem beim F-dur-Quartett die beiden ersten) zu neuartigen Kompositionen geworden. Natürlich stehen auch die Nummern 4 bis 6 noch in der Tradition; der eigentliche Bruch mit dem 18. Jahrhundert wird sechs Jahre später - dafür umso radikaler - mit den Rasumowsky-Quartetten op. 59 erfolgen.

Die modernste Passage im 6. Quartett ist die langsame Einleitung zum Schlusssatz, welche die Überschrift "La Malinconia" trägt. Die Schwermut wird in einer Weise gemalt, die "harmonisch alles Vergleichbare jener Zeit weit hinter sich lässt" (W. Konold). Im Wechsel mit der Heiterkeit der tänzerischen Allegrettoteile ergibt sich nicht nur ein Kontrast, sondern auch der Versuch, beide Seiten menschlichen Verhaltens als austauschbar nebeneinander zu stellen. Am Schluss setzt sich mit der Prestissimo-Steigerung das Tänzerisch-Lustige durch, wirkt aber, wie so oft bei Beethoven, nicht ganz frei, eher etwas künstlich. Das Werk ist auf diesen Finalsatz hin ausgerichtet: ein musikantischer, nur im Seitenthema etwas ruhigerer Kopfsatz, das melodisch-subtile Adagio in dreiteiliger Liedform und das synkopierte Scherzo mit eigenwilligen Akzenten bilden den Vorspann zum quasi una fantasia des Finales.

Die Wege zur ersten Sinfonie und zum ersten gültigen Streichquartett waren bei Brahms lang und führten über mehrere Vor- und Zwischenstufen. Der Weg zum Streichquartett war wohl verschlungener – doch endeten beide schliesslich erfolgreich in einem c-moll-Werk. Wie viele Streichquartette Brahms komponiert hat, weiss man nicht. Drei sind bekannt und Kammermusikfreunden wohlvertraut. Vor diesen hat es eine grössere Anzahl weiterer Quartette gegeben. Schumann berichtet in seinem begeisterten Artikel über den jungen Brahms nach dessen Besuch in Düsseldorf 1853, jener habe ihm in «ganz geniale(m) Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester ... machte» neben anderem auch «Quartette für Saiteninstrumente – und jedes so abweichend vom andern, dass sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen» vorgespielt. Im selben Jahr wollte Brahms ein Quartett in h-moll als erstes Werk veröffentlichen – schliesslich wurde eine Sonate für sein eigenes Instrument das Opus 1. Und an seinen Jugendfreund und Mitschüler August Alwin Cranz (1834-1923), den Sohn eines Hamburger Musikverlegers, schrieb er, er habe «bereits über 20 Quartette komponiert». Bis zur Fertigstellung und Veröffentlichung der ersten gültigen Quartette sollten aber zwanzig Jahre vergehen. Was vorangegangen war, wurde vernichtet. Zwischenstufen bildeten Klavierquartette, Streichsextette und das Streichquintett mit zwei Celli von 1862, das später zur Sonate für 2 Klaviere und zuletzt zum Klavierquintett wurde. Und als die beiden Quartette des op. 51 1873 endlich zur Geburt reif waren, bedurfte es, wie Brahms scherzhaft anmerkte, für die «Zangengeburt» des Chirurgen. Ihm, dem Freund Theodor Billroth (1829-1894; 1860-67 Professor in Zürich, dann in Wien), sind sie denn auch gewidmet, obwohl für das zweite ursprünglich Joseph Joachim vorgesehen war. Da Skizzen zum op. 51 bis in die Zeit um 1865 zurückgehen, verstehen wir den Scherz von Brahms. Im c-moll-Quartett überraschen ein neuer Klang und Verdichtung, stellenweise geradezu spröde Verschlossenheit, strenger Ernst und eine fast monothematische Substanz. Ludwig Finscher charakterisiert die Sätze mit «dra­matisch zerklüftet» (Kopf­satz), «melancholisch» (Romanze in As-dur), «nachdenklich-ver­sponnen» (Allegretto-Intermezzo in f-moll anstelle eines Scherzos) und «emotionale Hochspannung» (Fi­nale). Trotz letztlich traditionsbewusster Bezugnahme – nicht nur in der Erwartungen weckenden Tonart – auf das Vorbild Beethoven brachte die Uraufführung am 11. Dezember 1873 in Wien durch das Hellmesberger Quartett vorerst nur einen Achtungserfolg ein. Die konsequente und komplexe Kompositionsmethode zeigt sich im Entwickeln des Materials aus wenigen Kernmotiven – was Schönberg später «entwickelnde Variation» nannte, hauptsächlich an den Quartetten op. 51 darlegte und als fortschrittlich bewunderte. So war Brahms sehr wohl ein moderner Komponist und nicht, was das Publikum damals vielleicht lieber gehört hätte, ausschliesslich ein Bewahrer klassischer Vorgaben.
Unzählige Briefe (man vermutet zwischen 600 und 2000) hat Janáček zwischen 1917 und 1928 an seine „ferne Geliebte“ Kamila Stösslová, die 38 Jahre jünger war als er, geschrieben. Sie war für ihn Befreierin und Anregerin für sein grandioses Spätwerk, an dessen Ende das 2. Streichquartett steht (es wurde vier Wochen nach seinem Tod am 11. September 1928 uraufgeführt). Eben dieses Quartett ist gewiss der schönste dieser Briefe. Es thematisiert – wie schon das erste („Kreutzersonate“) – die Liebe. Im Februar 1928 schrieb Janáček an Kamila: „Jetzt habe ich begonnen, etwas Schönes zu schreiben. Unser Leben wird darin enthalten sein. Es soll «Liebesbriefe» heissen. Ich glaube, es wird reizend klingen. Wir hatten ja genug Erlebnisse!“ Doch bald darauf ändert er den Titel in Intime Briefe, da man seine „Gefühle nicht Dummköpfen preisgibt“, und ersetzt gleichzeitig die vorgesehene Viola d’amour durch die gewöhnliche Bratsche. Was äusserlich an den ständig wechselnden Tempobezeichnungen ablesbar ist, gilt generell für Janáčeks Kompositionsstil. Er entwickelt nicht Themen oder gar Melodien verarbeitend zu einem klassisch-romantischen Satzgebilde, sondern reiht in oft hartem Schnitt Motive oder aus solchen gebildete Phrasen aneinander. Diese sind von tiefem emotionalem Gehalt erfüllt; sobald er ausgeschöpft ist, wird ein Wechsel vollzogen. Dies führt zu starken Kontrasten, wie es gleich zu Beginn des Quartetts zu erleben ist: Aus dem Kern der beiden Phrasen ist letztlich der ganze Satz gereiht. Der Brünner Musikschriftsteller Ludvik Kundera schildert Janáčeks Arbeitsweise folgendermassen: „Janáček hämmerte so laut, als es überhaupt möglich war, (...) mit den Fingern immer wieder ein und dasselbe Motiv von ein paar Tönen aus dem Klavier hervor. (...) Er wiederholte das Motiv mehrere Male rundum, entweder in unveränderter Gestalt oder zuweilen mit einer kleinen Abänderung. Aus der Verve, mit der er spielte, war herauszufühlen, wie stark er von dem Gefühlsgehalt des Motivs erregt und hingerissen wurde. (...) Bei diesem Beginnen komponierte er nicht – er wollte sich nur durch das ständige Wiederholen eines kleinen Motivs in eine bestimmte Stimmung versetzen, um dann ohne Klavier das zum überwiegenden Teil aus diesem Motiv aufgebaute Tonwerk in fieberhafter Hast unmittelbar aufs Papier zu werfen.“

Ludwig van Beethoven 1770-1827

Streichquartett Nr. 6, B-dur, op. 18, Nr. 6 «La Malinconia» (1798/1800)
Allegro con brio
Adagio, ma non troppo
Scherzo: Allegro – Trio
La Malinconia: Adagio – Allegretto quasi Allegro – poco Adagio – Prestissimo

Johannes Brahms 1833-1897

Streichquartett Nr. 1, c-moll, op. 51, Nr. 1 (1873)
Allegro
Romanze: Poco adagio
Allegretto molto moderato e comodo – Un poco più animato
Finale: Allegro

Leoš Janácek 1854-1928

Streichquartett Nr. 2 «Intime Briefe» (1928)
Andante – Allegro
Adagio
Moderato
Allegro