Prima la musica, dopo le parole – oder vielleicht doch umgekehrt? Die alte artifizielle Streitfrage des 18. Jahrhunderts bildet die um viel Menschliches (es geht auch um die Entscheidung in einer Liebessache) erweiterte Grundlage der letzten eigentlichen Oper von Richard Strauss, dem Konversationsstück „Capriccio“ (uraufgeführt am 28. Oktober 1942 in München, Text Clemens Krauss). Ein Dichter und ein Komponist werben um die Liebe der verwitweten jungen Gräfin Madeleine. Die Geburtstagsgabe für sie soll die Entscheidung bringen. Wer wird siegen: „Wort oder Ton? – Sie wird es entscheiden!“ Der Dichter hat ein Sonett geschrieben (im Stück ein Originaltext von Pierre de Ronsard), der Komponist ein Streichsextett. In raffinierter Weise bildet dieses Kammermusikstück, das zu Beginn der Oper gespielt wird, sowohl eine Art Ouvertüre als auch den Einstieg in die Handlung und somit einen Bestandteil der Oper. Es stellt zugleich das wichtigste musikalische Material der Oper vor. Selten führt ein Vorspiel so organisch in die Handlung ein. Sie spielt in einem Rokokoschloss des Ancien Régime in der Nähe von Paris. Die vielädrige Polyphonie und der berückende Klangreiz dieses Spätlings, der auf die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ (1944/45 für Paul Sacher, ursprünglich ein Streichseptett) vorausweist, können auch heute bezaubern – es sei denn, es gehe Ihnen, verehrtes Publikum, wie dem Theaterdirektor La Roche, der nach der Aufführung zum Komponisten sagt: „Die Gräfin erhebt sich, noch sichtlich bewegt von deiner Musik. War sie wirklich so schön? Schade, schade, ich habe sie verschlafen.“ Denn „bei sanfter Musik schläft sich’s am besten.“ Wird die Musik bzw. der Komponist gewinnen oder das Sonett des Dichters – oder womöglich das vertonte Gedicht? Oder gar eine Oper, wie La Roche vorschlägt? In ihrer Schlussszene lässt die Gräfin die Frage offen, kann sich nicht entscheiden: „Wählst du den einen – verlierst du den andern! Verliert man nicht immer, wenn man gewinnt?“ In diesem Gefühl soll sie den Schluss der Oper finden und fragt sich: „Gibt es einen, der nicht trivial ist?“