
Sein Lebensweg führte den 1934 geborenen Wolgadeutschen Alfred Schnittke über Moskau und Wien bis nach Deutschland – dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er seit 1990 besass. Dabei inspirierten ihn so viele musikalische Einflüsse und Stile, dass sein Lebenswerk schwer unter einen Begriff zu fassen ist. Seine Sprache reicht von neoklassizistischer Neuentdeckung des Barockstils bis zur Zwölftontechnik, von der Filmmusik bis zur Avantgarde. Schnittkes zweites Streichquartett ist Zeugnis persönlich erlebter Trauer. 1979 starb seine enge Freundin, die Regisseurin Larissa Schepitko, bei einem Autounfall. Schnitte hatte für deren letzten vollendeten Film («Der Aufstieg», 1977 bei der Berlinale mit dem «Goldenen Bären» ausgezeichnet) die Musik geschrieben. Er reagierte darauf mit seinem zweiten Quartett, dessen Ausdruck zwischen Besinnung, Verzweiflung und Verwirrung schwankt. Schnittke unterzieht das Tonmaterial, das dem Komponisten zufolge aus der alten russischen Kirchenmusik stammt, in mehreren Anläufen immer wieder verfremdenden Effekten und chaotischen Auflösungsprozessen.
Ein Zeitungsartikel in der russischen Tageszeitung Prawda war für Dmitri Schostakowitsch der Beginn eines Lebens unter einem Damoklesschwert. Unter dem Titel «Chaos statt Musik» hatte der russische Diktator Stalin wahrscheinlich persönlich die Musik Schostakowitschs verunglimpft und als politisch unerwünscht gebrandmarkt. Immer wieder hatte der Komponist nun damit zu kämpfen, den offiziellen Anforderungen gerecht zu werden, aber gleichzeitig sein künstlerisches Selbstbewusstsein zu behalten. Dies gelang ihm mit unterschiedlichen Methoden von vorbehaltloser Anbiederung an Gefordertes (etwa in den heute so populären Walzern) über das Verstecken hinter einer nur für Kenner sichtbaren Grimasse (wie in einigen seiner Sinfonien) bis hin zur rigorosen Befolgung des eigenen Gewissens. Werke der dritten Kategorie blieben lange in der Schublade – wie auch das vierte Streichquartett aus dem Jahre 1949, das ein Jahr später nur in einer geheimen Aufführung in der Wohnung des Komponisten erklang und erst nach Stalins Tod seine öffentliche Premiere erlebte. Was dem Komponisten an dem Werk zu gefährlich erschien, erlebt man im vierten Satz: Hier schöpfte Schostakowitsch aus dem typischen, von Trauer umwehten tänzerischen Motivmaterial jüdischer Volksmusik. Das wäre dem bekennenden Antisemiten Stalin und seinem Kulturapparat ein Dorn im Auge gewesen.
Oliver Buslau