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  • Streichquartett Nr. 4 mit einer Fatrasie für Jürg Wyttenbach als Interpolation (2015)

Alfred Zimmerlin 1955-

Alfred Zimmerlin schreibt zu seiner Fatrasie und zum 4. Streichquartett: Ein Riesenvergnügen dürfte der Komponist Jürg Wyttenbach – dieser Meister des Absurden im Konkreten und Liebhaber des Deftigen – bei der Lektüre der «Fatrasien» empfinden, welche im 13. Jahrhundert im nordfranzösischen Arras gedichtet wurden: absurde mittelalterliche Poesie zur Fastnachtszeit, pure, strenge, mitunter zotige Wort-Klang-Spiele. Ralph Dutli hat die Texte meisterhaft ediert und übersetzt. Ein solcher Text wird in der «Fatrasie – Hommage à Jürg Wyttenbach» von den Mitgliedern des Streichquartetts auf bizarre Weise gesprochen, altfranzösisch, aber mit der Färbung der Muttersprache des jeweiligen Spielers. Dazu werden auf den Instrumenten Rhythmen gespielt, welche aus der systematischen Sammlung von Marschtrommel-Rhythmen stammen, die sich in Thoinot Arbeaus «Orchésographie» (Langres 1589) findet. Anstelle eines Bogens verwenden die Spieler jeweils ein chinesisches Essstäbchen zur Klanganregung der Saiten ihrer Instrumente. Eine kurze, absurde musikalische Situation für Jürg Wyttenbach zum 80. Geburtstag! Die «Fatrasie» kann als Interpolation an einer bestimmten Stelle im 4. Streichquartett gespielt werden, ist aber genauso auch eine Art «Encore». Das persönliche Ausdrucksbedürfnis eines Komponisten ist viel weniger wichtig, als es die Klänge sind. Sobald ein Ego dezidiert mitzuspielen beginnt, sind die Klänge dazu gezwungen, mehr zu sein als einfache Tatsachen. Die Klänge im 4. Streichquartett haben nicht – wie sonst oft – die zusätzliche Aufgabe, auch aussermusikalische Sinneseindrücke zu transportieren. Sie sind nichts anderes als Klänge. Alle Emotion, die wir beim Hören empfinden können, kommt aus ihnen, denn die Klänge selber laden uns zu einem Hör-Erlebnis ein. Die Phase in der Musikgeschichte, in welcher die Klänge mehr als sich selber zu sein hatten, war verhältnismässig kurz, wirkt aber bis heute nach; sie prägte vor allem das 19. Jahrhundert. Dennoch mag es im 4. Streichquartett immer wieder musikalische Momente oder Gesten geben, die uns beim Hören an in anderer Musik Erlebtes erinnern. Und doch sind sie eigentümlich verschieden. Im neuen Kontext lassen sie sich neu aus sich selber heraus erleben. Selbst die Qualitäten einer vorgefundenen Melodie aus dem europäischen Mittelalter, wie sie am Ende des Satzes «14 Variationen» aus einem Metamorphose-Prozess entsteht, mögen neu-anders erfasst werden. Im 4. Streichquartett setzte ich mich mit Fragen des rein musikalischen Denkens auseinander. Wie kann Form aus kleingliedrigen Episoden entstehen? Wie kann eine Folge von musikalischen Momenten eine Narration ergeben? Wie wirkt Voraushörbares auf Unmittelbares, Überraschendes ein? Gibt es Brücken zwischen Widersprüchen? Wie kann aus einem Plural innermusikalische Logik entstehen? Das 4. Streichquartett hat vier unterschiedliche Sätze, die in Kreisform angeordnet sind: Eine Aufführung kann mit jedem Satz beginnen ¬– ein Zyklus also wie die vielen Zyklen im Leben. Mit einem Augenzwinkern habe ich mich nach Fertigstellung entschlossen, folgenden Hinweis in der Partitur zu vermerken: «Es empfiehlt sich, an winterlichen Tagen mit ‹11 Episoden›, an frühlingshaften Tagen mit ‹14 Momente...›, an sommerlichen Tagen mit ‹23 Episoden› und an herbstlichen Tagen mit ‹14 Variationen› zu beginnen.» Also doch noch ein winziger Rest aussermusikalischer Poesie... Das 4. Streichquartett entstand im Auftrag der Gesellschaft für Kammermusik Basel und ist ihr gewidmet. (A. Z.)
11 Episoden
Fatrasie. Hommage à Jürg Wyttenbach
14 Momente und ein Faden
23 Episoden
14 Variationen

Dauer ca.: 00:33

Aufführungen