• Werk-Details
  • Kafka-Fragmente für Sopran und Violine, op. 24 (1985/86)

György Kurtág 1926-

Der bei uns schon mehrfach aufgeführte, diesen Winter bei uns mit drei Werken vertretene ungarische Komponist, in Lugosch in Siebenbürgen (Rumänien) geboren, wurde erst nach seiner Übersiedlung nach Budapest 1948 ungarischer Staatsbürger. Er studierte wie sein Kollege Ligeti bei Sándor Veress, 1957/58 bei Messiaen und Milhaud in Paris. Nach seiner Rückkehr begann er mit neuer Konzeption sein für ihn typisches Werk zu entwickeln. Die beiden Wurzeln sind Webern (prägnante Kürze) und sein im doppelten Wortsinn Landsmann (da er ebenfalls auf rumänischem Staatsgebiet geboren wurde) Bártok (periodisches Denken). Die Kafka-Fragmente, der Psychologin Marianne Stein gewidmet und 1987 an den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, sind dafür typisch. Die oft auf ein paar wenige Worte beschränkten Texte (aus Kafkas Tagebüchern 1910–1923, der Erzählung Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, zwei aus Briefen und in einem Fall aus Elias Canettis Studie über Kafkas Briefe an Felice Bauer «Der andere Prozess») garantieren auch musikalisch eine extreme Kürze. Die meist ohne Kontext auftauchenden Fragmente, oft nur Einzelworte, ergeben keine zusammenhängende Handlung oder Entwicklung des Textes, sondern sind auf Impressionen, Beobachtungen, banale Erlebnisse reduziert. In ihrer Expressivität ergeben sie mit wenigen Worten eine eigene Stimmung, einen den Hörer persönlich berührenden Ausdruck. Mit unendlich differenzierter Ausarbeitung gibt Kurtág den beiden Ausführenden die Möglichkeit, von Moment zu Moment umschlagend neue Situationen darzustellen, neue Rollen (nicht im Sinn einer sich entwickelnden Theaterpartie) zu spielen. Vertont werden nicht eigentlich die Worte, sondern Seelenzustände und die Befindlichkeit der verdämmernden k. u. k. Monarchie. Das Werk kann bezüglich Umfang (60-70 Min.) und Gewicht neben die grossen Liederzyklen des 19. Jahrhunderts gestellt werden. In einem Interview (NZZ 3.2.2004) äusserten sich die beiden Interpretinnen Anna Maria Pammer und Patricia Kopatchinskaja zu Kurtág und zu den Kafka-Fragmenten: A.M.P.: «Wir haben vor ungefähr zwei Jahren die Chance gehabt, das Werk für ein Konzert in Linz einzustudieren. Bei dieser Gelegenheit haben wir uns künstlerisch kennen gelernt. Dann konnten wir die Kafka-Fragmente mit Kurtág selber durchgehen, was natürlich toll war.» P.K.: «Er kam eigentlich nur, um etwa zwanzig Minuten abzuhören – ein Drittel des Stücks. Dann hat er gesagt: Weiter, weiter, weiter…und blieb dreieinhalb Stunden.» A.M.P.: «Er hat ja den Ruf, anspruchsvoll und streng zu sein, war aber ganz phantastisch. Es war sehr interessant zu erleben, wie stark er in der Tradition steht und gerade daraus seine Eigenständigkeit entwickelt hat. Oft sagte er: Das ist doch Brahms, das ist Bach und das ist Bartók, das ist dieses Volkslied und so weiter. Ein richtiges Bekenntnis zu den Wurzeln. Dann war einmalig, wie er uns beiden nicht nur erklären konnte, was die musikalische Aussage ist, sondern auch, wie man dort hinkommt.» Für A.M.P. ist das Besondere an diesem Werk «die Treffsicherheit: Wie Text und Musik hundertprozentig zusammenpassen.» P.K.: «Die einzelnen Stücke sind miteinander fast gar nicht verbunden. Aber das ist nur scheinbar willkürlich. Das ist irgendwie wie ein ganzes Leben.»