«Die Korrektur von der zweiten Abteilung der Winterreise waren die letzten Federstriche des vor kurzem verblichenen
Schubert.» Dieser Satz aus der Verlagsankündigung vom Dezember 1828 ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Ungewollt gerät der unglückliche Winterreisende in die Nähe von Schuberts eigenem Tod - eine Mythifizierung wie so häufig bei Schubert (man denke an die «Unvollendete»!) setzt ein. Zum andern erfahren wir, dass der Zyklus offenbar in zwei Abteilungen veröffentlicht wurde. Diese Zweiteilung gilt nicht nur für die Veröffentlichung, sondern auch für die Entstehung, und zwar zweifach: Die ersten zwölf Lieder, deren Text Schubert offensichtlich aus Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823 entnommen hat, sind zu Beginn des Jahres 1827 entstanden (die Reinschrift von Gute Nacht ist mit Februar 1827 datiert). Wilhelm Müller selbst hat später zwölf Gedichte hinzugefügt und 1824 unter dem Titel Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten in Dessau herausgebracht. Während Müller die neuen Gedichte zwischen die alten einfügte (Reihenfolge in der Zählung bei Schubert: 1-5/13/6-8/14-21/9-10/23/11-12/22/24), hängte sie Schubert an die bereits komponierten an und stellte dabei einzig Mut und Die Nebensonnen um. Dieses Faktum zeigt, dass die Winterreise viel weniger als Die schöne Müllerin eine sich entwickelnde «Handlung» aufweist. Die Texte kreisen immer um dasselbe, variieren die gleichen Gedanken und greifen das im einsamen Wandern so typische Reflektieren in zwar neuen Formen und Bildern, aber letztlich im gleichen Gefühl wieder auf. Der Wanderer der Winterreise bricht zwar auf (Nr. 1 ist ein Wanderlied - aber was für eines im Vergleich zur Nr. 1 der Müllerin!), geht dann aber im Kreis herum und findet sein Ziel, das «Wirtshaus» (= Totenacker) nicht. Das Kreisende, welches sowohl in der Textentstehung und in der Komposition enthalten ist, findet sein Abbild im Schlusslied: Der seinen Leierkasten sinnlos drehende Leiermann wird so zum Ebenbild des sinnlos über sein Schicksal nachdenkenden und trotz dem Wegweiser ziellos kreisenden Wanderers. Ob der Leiermann der den Wanderer erlösende Tod ist (wie es in der Müllerin der Bach war) bleibt letztlich offen wie Schuberts schwebende Quinte am Ende des Zyklus. Dieses Schauerlich-Ungewisse, diese Hilflosigkeit trotz zeitweisem Aufbäumen und Trotzen (etwa in Der stürmische Morgen oder Mut), dieses immer mehr in sich selbst hinein Kreisen hat Schuberts Freunde und Zeitgenossen so tief erschüttert, dass sie über diesem Zyklus erschraken. Schubert ist es gelungen, über diese Texte in eine Tiefe, in Schmerz und Einsamkeit vorzudringen wie nie zuvor. Was in der Müllerin noch naive Volksliedhaftigkeit und im Grunde Heiterkeit gewesen war (man vergleiche den hellen Bach noch am Ende der Müllerin und den Fluss in Auf dem Flusse), ist trotz mancher textlicher Volkstümlichkeit einer monochrom-schmerzhaften Trostlosigkeit gewichen (16 Lieder stehen in Moll). Das einzige scheinbar volkstümliche Lied, Der Lindenbaum, war auch das einzige, das den Zuhörern der ersten Aufführung gefallen hat. In Silchers «Volksliedfassung» für Chor wird die beängstigende Mollpassage der dritten Strophe an das Dur der beiden ersten angeglichen. Am 27. März 1824 hatte Schubert in seinem Tagebuch notiert: «Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz entstanden! jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.» Erfreuen wird uns das Schmerzende dieser Winterreise auch heute nicht - aber noch immer so erschüttern, wie es nur wenige Werke der Musikgeschichte vermögen.
rs