Konzerte Saison 1966-1967

  • 23.1.1967
  • 20:15
  • 41.Saison
Stadtcasino, Festsaal

Avramov-Quartett (Sofia)

Über Haydns op. 20 sagte einst Donald Tovey: «Mit Opus 20 erreicht die historische Entwicklung von Haydns Quartetten ihren Endpunkt; und weiterer Fortschritt ist nicht Fortschritt in irgendeiner geschichtlichen Bedeutung, sondern schlicht der Unterschied zwischen einem Meisterwerk und dem nächsten.» Man hat im op. 20 aber auch divergente Tendenzen, ja Uneinheitlichkeit im Satztechnischen und Ausdruck festgestellt. Und doch erkennt man den Willen zu formaler Geschlossenheit und zu aparter Klanglichkeit. Als einzige weist diese Sechserserie zudem zwei Quartette in einer Molltonart auf; dazu kommt im 4. Quartett ein Variationensatz in d-moll. Dieses besonders originelle Quartett beginnt mit einem fünffach nur wenig veränderten sechstaktigen Themengedanken – unverkennbar das Klopfmotiv an dessen Beginn – im Piano. Der Variationensatz, der längste Einzelsatz im Quartett und im Opus, teilt das Variieren des in sanfter Marschbewegung gehaltenen Themas einzelnen Instrumenten zu (2. Violine und Bratsche / Cello / 1. Violine), bevor es zur gleichwertigen Beteiligung in der 4. Variation kommt; diese endet in einer emotionsgeladenen Coda von 34 Takten. Das Menuett «alla zingarese» überrascht mit rhythmischen Verschiebungen durch Sforzati, das Trio durch sein Cellosolo. Haydns Hauptaugenmerk liegt im Opus 20 auf den Finali. Bei dreien hat er sich für eine Fuge entschieden. Die andern sprühen von Originalität, ganz besonders das im D-dur-Quartett. Statt einer gewichtigen intellektuellen Fuge steht hier ein leichtes, aber höchst geistreiches Finale, das im Spiel zwischen Scherz und bedeutend sein wollenden Volksmusikelementen Gegensätzliches verbindet. Ist es Zufall, dass Haydn nach diesem originellen, so viel Widersprüchliches vereinigenden Opus fast zehn Jahre wartete, bis er 1782 eine neue Sechserserie veröffentlichte?
Die drei Streichquartette Tschaikowskys, neben dem Klaviertrio und dem Streichsextett seine kammermusikalischen Hauptwerke, sind 1871, 1874 und 1876 entstanden; sie sind alle klassisch viersätzig. Ist das erste noch weitgehend musikantisch gehalten, treten schon beim zweiten bei aller Spielfreudigkeit tiefer empfundene und expressivere Teile auf. Das dritte nun dringt in ganz andere Sphären vor. Man hat von «seelischen Abgründen» (A. Werner-Jensen) gesprochen. Wie das spätere Klaviertrio von 1881/82, das ein Requiem für Nikolaj Rubinstein werden sollte, ist es ein Werk «in memoriam». In typisch slawischem (auto-)biographischem Bezug gedenkt Tschaikowsky hier eines Freundes, des 1875 verstorbenen Geigers Ferdinand Laub. Dieser war der Primgeiger bei der Uraufführung der beiden ersten Quartette gewesen. Jetzt soll die Vorherrschaft der ersten Geige das ausdrucksvolle Spiel des Freundes heraufbeschwören und gleichzeitig der eigenen Trauer über den Verlust Ausdruck geben. Die seltene Tonart es-moll mit sechs ♭ trägt das Ihre dazu bei. Die Klagen der Andante-Einleitung mit ihrem chromatischen Beginn (B – Ces – C – Es – D) werden nach dem ebenfalls emotional geprägten Allegro bedeutungsvoll wiederholt. Dieses Allegro nimmt die Chromatik auch gleich selber auf. Einzig das Seitenthema in B-dur wirkt lichter. Die Episode des kurzen Scherzos, ebenfalls in B-dur und im ungewohnten 2/4-Takt, wirkt wie ein Spuk oder, wie man auch gesagt hat, wie eine «dämonische Vision». Sie wird im Trio leicht aufgehellt, was aber die gedrückte Stimmung kaum unterbricht. Diese wird im trauermarschähnlichen, in der Grundtonart es-moll stehenden langsamen Satz wieder aufgenommen. Neben verbalen Bezeichnungen wie funebre, doloroso, piangendo oder con dolore weisen die Anklänge an die Totenmesse der russisch-orthodoxen Kirche in den Tonwiederholungen der zweiten Geige auf den Charakter eines Trauergesanges hin. Erst das musikantische, wenn auch konventionelle und eher kurze Rondo bricht mit dieser Stimmung und lässt das Werk im dreifachen Forte in Es-dur ausklingen. Das Quartett wurde am 18. März 1876 im Haus von Nikolaj Rubinstein erstmals aufgeführt.

Über Borodin hört man manchmal die Frage, ob er ein komponierender Wissenschaftler oder ein wissenschaftlicher Komponist gewesen sei. Zweifellos war er eine grosse Doppelbegabung. Hauptamtlich war er (innovativer) Wissenschaftler, Mediziner, dann Chemieprofessor in Petersburg. Komponieren konnte er nur nebenher. Bei seiner Weiterausbildung nach der Promotion in Medizin lernte er in Heidelberg seine Frau kennen (und daneben in Mannheim die Musik Wagners). Sie war eine grosse Musikliebhaberin; ihr hat er das 2. Streichquartett gewidmet – und das hört man dem Werk an. War im 1. Quartett der Ausgangspunkt Beethoven gewesen (mit einem Zitat aus op. 130), so ist im 2. Quartett russische Melodik bestimmend. Dazu trägt das Cello bei, das Borodin selbst ausgezeichnet spielte. So wurde nicht zufällig das ausdrucksstarke Notturno zum beliebtesten Satz des Werkes. Elegant-lyrisch gibt sich der Kopfsatz, das originelle Scherzo in freier Form, das sein gesamtes Material aus den ersten Tönen bezieht, lässt im Trio einen Walzer anklingen. Am ehesten erinnert das Finale an Beethoven. Das einleitende Andante stellt das Material vor (Unisono-Passagen) und unterbricht später den locker dahin fliessenden Ablauf des Hauptteils.

Joseph Haydn 1732-1809

Streichquartett Nr. 34, D-dur, op. 20, Nr. 4, Hob. III:34 (1772)
Allegro di molto
Un poco Adagio e affettuoso
Menuet alla Zingarese – Trio
Presto e Scherzando

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky 1840-1893

Streichquartett Nr. 3, es-moll, op. 30 (1876)
Andante sostenuto – Allegro moderato
Allegretto vivo e scherzando
Andante funebre e doloroso, ma con moto
Finale: Allegro non troppo e risoluto

Alexander Borodin 1833-1887

Streichquartett Nr. 2, D-dur (1880/81)
Allegro moderato
Scherzo: Allegro
Notturno: Andante
Finale: Andante – Vivace