Konzerte Saison 1948-1949

  • 30.11.1948
  • 20:15
  • 23.Saison
Stadtcasino, Festsaal

Végh-Quartett (Budapest/Basel)

in Budapest bis mindestens 1949
Ob die Auseinandersetzung mit der Barockmusik und speziell mit Bach ein Auslöser für die kühnen, den damaligen Hörern so unvertrauten Harmonien im einleitenden Adagio des darum so betitelten Dissonanzen-Quartetts waren? Sicher ist nur, dass ihr oft unvermitteltes Auftreten, das sich nicht unbedingt aus einer Struktur wie in einer bachschen Fuge erklären liess, nicht nur Korrekturversuche ausgelöst hat, sondern irritierte Käufer veranlasste, die Noten an den Verleger Artaria zurückzuschicken mit der Bemerkung, sie seien voller Fehler des Stechers. «Der in der Einleitung angeschlagene chromatische Grundton wird zum Kennzeichen der ganzen Komposition, scheint fast an die Stelle kontrapunktischer Kunstfertigkeit zu treten, die wir aus den vorangehenden Quartetten kennen» (A. Werner-Jensen).

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Ein italienischer Käufer soll dem Verleger Artaria die Noten von Mozarts Haydn-Quartetten mit der Bemerkung zurückgeschickt haben, sie seien voller Fehler des Stechers. Und der Komponist Giuseppe Sarti kritisierte sie, weil Mozart wie ein Klavierspieler schreibe, der zwischen Dis und Es nicht unterscheiden könne. Die Kritik zielte gewiss auf die 22 Takte der Einleitung zum C-dur-Quartett. Obwohl es lange vor Mozart kühnere harmonische Reibungen gegeben hatte, erregte ihr Auftauchen in einem Streichquartett und der Umstand, dass die Dissonanzen so gar nicht zur Klarheit der folgenden Sätze passen wollten, Unmut. Aber vielleicht war es gerade das, was Mozart suchte: So wird einem das C-dur erst wirklich bewusst. Mozart trug das C-dur-Quartett am 15. Januar 1785 in sein Werkverzeichnis ein. Bereits am nächsten Tag führte er es mit den fünf andern dem Widmungsträger und Freunden vor mit Wiederholung am 12. Februar - wieder im Beisein Haydns. Dieser hat nach der ersten Aufführung bekanntlich von Mozart gesagt, er habe „die grösste Compositionswissenschaft“. Dies hätte er kaum von einem Komponisten gesagt, der Dis und Es nicht unterscheiden kann.

Berg hat seine Lyrische Suite nach Alexander Zemlinskys Lyrischer Sinfonie benannt, sie dem älteren Freund und Mentor gewidmet und mit einem Zitat im Adagio appassionato die Reverenz bekräftigt. Dass jedoch hinter Widmung und Zitat mehr steckt, erahnt man, seit man weiss, dass Bergs Quartett der Ausdruck einer tiefen, doch unerfüllten Liebe zu Franz Werfels Schwester Hanna Fuchs-Robettin ist. Ja, man kann sich fragen, ob nicht nachträgliche Tarnung vorliegt. Die Lyrische Sinfonie ist eine Folge von sieben Liebesgesängen. Berg zitiert die schönste Phrase des Baritons, den Refrain «Du bist mein Eigen, mein Eigen» aus dem 3. Satz. Sieht man das Textumfeld näher an, so fällt folgende Passage der 3. Strophe auf: «Ich hab dich gefangen und dich eingesponnen, Geliebte, in das Netz meiner Musik. Du bist mein Eigen, mein Eigen, du, die in meinen unsterblichen Träumen wohnt.» Genau das hat Berg getan, wenn er die Initialen A-B und H-F «immer wieder in die Musik hineingeheimnisst». Die Zahlen 10 und 23, «unsere Zahlen», wie Berg für Hanna schreibt, bestimmen das Kompositionsschema von Sätzen und Satzteilen. «Ich habe dies und vieles andere Beziehungsvolle für Dich in diese Partitur hineingeschrieben», so ein Tristanzitat und in der Melodiestimme des Largo desolato eingewoben ein Zitat aus Baudelaires Gedicht De profundis clamavi: «Zu Dir, Du einzig teure, dringt mein Schrei aus tiefster Schlucht, darin mein Herz gefallen.» All dies geschieht unter dem Deckmantel der Zwölftontechnik und der scheinbar absoluten Musik eines Streichquartetts. In Kenntnis des geheimen Programms - Bergs Gattin Helene hat den Code nie durchschaut - versteht man auch die eigenartigen Satzbezeichnungen vom gioviale (ursprünglich gioioso) über das delirando der Krise des Liebesdramas bis hin zum endgültigen Verzicht im desolato besser. Aber die durchaus als absolute Musik fassbare Suite verliert dadurch ebensowenig an Aussagekraft und Schönheit wie Janáčeks fast gleichzeitiges 2. Streichquartett (Konzert Nr. 8) mit seiner ähnlichen «Thematik».
Die Wege zur ersten Sinfonie und zum ersten gültigen Streichquartett waren bei Brahms lang und führten über mehrere Vor- und Zwischenstufen. Der Weg zum Streichquartett war wohl verschlungener – doch endeten beide schliesslich erfolgreich in einem c-moll-Werk. Wie viele Streichquartette Brahms komponiert hat, weiss man nicht. Drei sind bekannt und Kammermusikfreunden wohlvertraut. Vor diesen hat es eine grössere Anzahl weiterer Quartette gegeben. Schumann berichtet in seinem begeisterten Artikel über den jungen Brahms nach dessen Besuch in Düsseldorf 1853, jener habe ihm in «ganz geniale(m) Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester ... machte» neben anderem auch «Quartette für Saiteninstrumente – und jedes so abweichend vom andern, dass sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen» vorgespielt. Im selben Jahr wollte Brahms ein Quartett in h-moll als erstes Werk veröffentlichen – schliesslich wurde eine Sonate für sein eigenes Instrument das Opus 1. Und an seinen Jugendfreund und Mitschüler August Alwin Cranz (1834-1923), den Sohn eines Hamburger Musikverlegers, schrieb er, er habe «bereits über 20 Quartette komponiert». Bis zur Fertigstellung und Veröffentlichung der ersten gültigen Quartette sollten aber zwanzig Jahre vergehen. Was vorangegangen war, wurde vernichtet. Zwischenstufen bildeten Klavierquartette, Streichsextette und das Streichquintett mit zwei Celli von 1862, das später zur Sonate für 2 Klaviere und zuletzt zum Klavierquintett wurde. Und als die beiden Quartette des op. 51 1873 endlich zur Geburt reif waren, bedurfte es, wie Brahms scherzhaft anmerkte, für die «Zangengeburt» des Chirurgen. Ihm, dem Freund Theodor Billroth (1829-1894; 1860-67 Professor in Zürich, dann in Wien), sind sie denn auch gewidmet, obwohl für das zweite ursprünglich Joseph Joachim vorgesehen war. Da Skizzen zum op. 51 bis in die Zeit um 1865 zurückgehen, verstehen wir den Scherz von Brahms. Im c-moll-Quartett überraschen ein neuer Klang und Verdichtung, stellenweise geradezu spröde Verschlossenheit, strenger Ernst und eine fast monothematische Substanz. Ludwig Finscher charakterisiert die Sätze mit «dra­matisch zerklüftet» (Kopf­satz), «melancholisch» (Romanze in As-dur), «nachdenklich-ver­sponnen» (Allegretto-Intermezzo in f-moll anstelle eines Scherzos) und «emotionale Hochspannung» (Fi­nale). Trotz letztlich traditionsbewusster Bezugnahme – nicht nur in der Erwartungen weckenden Tonart – auf das Vorbild Beethoven brachte die Uraufführung am 11. Dezember 1873 in Wien durch das Hellmesberger Quartett vorerst nur einen Achtungserfolg ein. Die konsequente und komplexe Kompositionsmethode zeigt sich im Entwickeln des Materials aus wenigen Kernmotiven – was Schönberg später «entwickelnde Variation» nannte, hauptsächlich an den Quartetten op. 51 darlegte und als fortschrittlich bewunderte. So war Brahms sehr wohl ein moderner Komponist und nicht, was das Publikum damals vielleicht lieber gehört hätte, ausschliesslich ein Bewahrer klassischer Vorgaben.

Wolfgang Amadeus Mozart 1756-1791

Streichquartett Nr. 19, C-dur, KV 465 «Dissonanzen-Quartett» (1785)
Adagio – Allegro
Andante cantabile
Menuetto: Allegro – Trio
(Molto) Allegro

Alban Berg 1885-1935

Lyrische Suite für Streichquartett (1926)
Allegretto gioviale
Andante amoroso
Allegro misterioso – Trio estatico
Adagio appassionato
Presto delirando – Tenebroso
Largo desolato

Johannes Brahms 1833-1897

Streichquartett Nr. 1, c-moll, op. 51, Nr. 1 (1873)
Allegro
Romanze: Poco adagio
Allegretto molto moderato e comodo – Un poco più animato
Finale: Allegro